Texterklärung
Jeremia tritt in das Tor des Tempels und wendet sich gegen Jerusalem und seine Bewohner. Er kritisiert einerseits ihren Lebenswandel und andererseits ihre Anbetung im Tempel. Aufgrund ihres Fehlverhaltens kündigt Jeremia die Zerstörung Jerusalems an. Besonders hart geht er mit den Priestern und Tempelpropheten ins Gericht: Sie wiegen das Volk in falsche Sicherheit mit ihrer Lehre, Jerusalem sei uneinnehmbar. Wie reagieren die Jerusalemer auf diese Kritik?
Garantiert der Tempel Bewahrung und Schutz?
„Verlasst euch nicht auf Lügenworte, wenn sie sagen: Hier ist des Herrn Tempel!“, warnt Jeremia (Jer 7,4). Die Priester und Tempelpropheten waren der Überzeugung, Jerusalem sei uneinnehmbar. Denn Gott selbst wohnt im Tempel. Hier sind sie sicher vor Krieg und Gewalt. Es waren stürmische Zeiten. Das militärisch überlegene Heer der Babylonier rückte gegen Jerusalem vor. Doch die Geistlichen predigten unbeirrt: Hier sind wir sicher. Und sie konnten dabei auf die Geschichte verweisen: Vor etwas mehr als 100 Jahren hatte das Heer der Assyrer Jerusalem monatelang belagert, aber war unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Gott hatte Jerusalem beschützt. Er wird es wieder tun. Aber Gott schickt Jeremia, um auszurichten: Verlasst euch nicht auf den Tempel! Sondern: „Bessert euer Leben und euer Tun, dass ihr recht handelt einer gegen den anderen!“ (Jer 7,5)
Drinnen vs. draußen
Jeremia kritisiert den Gottesdienst drinnen im Tempel und das Verhalten der Menschen draußen. Er sagt: Drinnen singen sie ihre Lieder, aber draußen dulden sie Gewalt und Unrecht gegen die Schwachen der Gesellschaft, gegen Fremde, Waisen und Witwen. Er prangert die Verlogenheit an, dass der Gottesdienst nichts mit dem Leben im Alltag zu tun hat. Aber noch mehr: Auch der Tempelgottesdienst selbst ist schon faul: Sie berufen sich auf den Gott Israels und seinen Schutz, aber beten zugleich fremde Götter an.
Jeremias Standpunkt
Diese Worte sind schwer zu verdauen. Entscheidend ist dabei, von wo sie geäußert wird. Kommen sie von
draußen, von einem, der es eh für eine wahnwitzige Idee hält, sich auf Gottes Schutz zu verlassen? Oder kommen sie von drinnen, von einem Tempelpropheten, der damit einen sicheren Lebensunterhalt hat? Weder noch – die Kritik kommt von einem Grenzgänger, von einem der zwischen den Stühlen sitzt. Das wird in dieser Passage fast sinnbildlich deutlich: Gott schickt ihn an einen bestimmten Ort: „Tritt ins Tor am Hause des Herrn und predige dort dies Wort“ (V. 2). Vom Tor aus, an dem Punkt zwischen dem Tempel drinnen und der Welt draußen, von dort aus spricht Jeremia. Ob eine Gemeinschaft den Maßstäben, die sie predigt, wirklich gerecht wird, merken besonders die Menschen an den Rändern, an der Grenze zwischen drinnen und draußen. Und wie Jeremia kann man dort manchmal recht einsam sein (Jer 15,10-21).
Die Reaktion
Jeremias Worte können nicht folgenlos bleiben. Jeremia 26 erzählt, wie die Jerusalemer auf seine Tempelrede reagieren. Die Priester und Propheten ergreifen Jeremia und bringen ihn vor die oberen Beamten und Ältesten. Sie fordern seinen Tod, denn sie merken: Jeremias Worte stellen ihre Grundüberzeugungen in Frage. Dass Jeremia im Auftrag Gottes spricht, bringt sie nicht zum Nachdenken. Sie sind immun gegen Kritik. Doch die Ältesten des Landes reagieren anders. Sie erinnern sich: Zur Zeit Hiskias gab es schon mal einen Propheten, Micha, der mit Jerusalem hart ins Gericht ging. „Ließ ihn denn
Hiskia deswegen töten? Fürchtete er nicht vielmehr den Herrn und flehte zu ihm?“ (Jer 26,19).
Die Bibel hält beides zusammen: Anbetung und auch die Kritik an den Betenden. Unangenehme Propheten und Grenzgänger wie Jeremia wurden nicht hinausgedrängt und zum Schweigen gebracht, sondern stehen gelassen. Kapitel 26 stellt uns die zwei Möglichkeiten vor Augen, die wir haben, wenn Menschen unsere Herzensüberzeugungen in Frage stellen und auf Doppelmoral hinweisen: Machen wir uns gegen Kritik immun oder hören wir hin?
Fragen zum Gespräch
- Wer darf mich kritisieren? Wessen Worte nehme ich ernst?
- Gottesdienst und Alltag klaffen manchmal weit auseinander. Habe ich Erfahrungen gemacht, dass Lieder oder Worte so weit von meinem Leben entfernt waren, dass es mir verlogen erschien?
- Jeremia fordert die Menschen auf, ihr Leben zu ändern, sodass es nicht im Widerspruch zum Gottesdienst steht. Das ganze Leben soll ein Gottesdienst sein (Röm 12,1-3). Wie sieht ein Leben aus, das dem Gottesdienst entspricht?
Jonathan Höfig