Gott macht sich verletzlich. Das ist kein typisches Thema, dem man mal eben so über den Weg läuft. Viele Texte des Alten und Neuen Testaments stellen Gott als den großen Schöpfer dar, den Retter der Welt. Den, der die Welt liebt, seinem Volk treu zur Seite steht, immer wieder Vergebung schenkt und auf den Menschen seit Jahrtausenden ihre Hoffnung setzen.

Ein nahbarer Gott

Doch in all dem zeigt sich von Beginn an, dass Gott es ernst meint mit dieser Welt, seinem Volk und uns
Menschen. Als Schöpfer und Erhalter der Welt, der treu zu seinen Geschöpfen steht, zeigt er sich als der nahbare Gott. Er bindet sich an die Welt, darum erträgt er auch nach der Sintflut alle Sünde des menschlichen Herzens und garantiert das Fortbestehen der sicheren Lebensbedingungen durch seinen Bund mit der ganzen Welt (1Mo 9). Indem sich Gott durch den Bundesschluss an sein Volk bindet, erträgt er auch alle ihre Sünde. Das führt bereits bei Mose dazu, dass Gott bereit ist, das Volk zu vernichten und Mose ein neues Volk zu schaffen. Auf Moses Eingreifen hin, entschließt sich Gott, seinem Volk eine weitere Chance zu geben (2Mo 32-34).

Gott bleibt nicht auf Distanz, denn er gibt Einblick in sein Herz

und trotzdem bleibt er souverän.

Julia Bazlen

Einer der tiefsten Einblicke in Gottes Herz finden wir beim Propheten Hosea (Hos 11). Hier ist von einer Veränderung in Gottes Herzen die Rede. Am liebsten würde er sein Volk zur Rechenschaft für ihre falschen Taten ziehen. Doch seine Liebe ist größer, weshalb er sich gegen das Gericht und durch seine Reue für die Gemeinschaft mit seinem Volk entscheidet. Er erweist sich hier als ein barmherziger und gnädiger Gott, der langsam zum Zorn und reich an Gnade und Treue ist (vgl. 2Mo 34,6). Er lässt seinem Zorn nicht freien Lauf, sondern beweist seine eigene Heiligkeit gerade darin, dass er sein Volk nicht aufgibt. Gott liebt und darum ringt er immer wieder um sein Volk. Er bleibt nicht auf Distanz, denn er gibt Einblick in sein Herz und trotzdem bleibt er souverän.

Verletzlich

Gott kommt auf die Erde und wird Mensch durch seinen Sohn Jesus Christus. Hier begegnen wir nun Gottes verletzlicher Seite. Allen Herausforderungen der damaligen Zeit war er ausgeliefert und ließ sich am Ende seines Lebens verraten, bespucken, verspotten und schänden (Mt 26). Geschlagen von einigen Männern und verlassen von seinen Freunden hing er am Kreuz (Mt 27). Andere Menschen verwundeten ihn, innerlich und äußerlich. Letztlich starb er. Nicht aus Solidarität, nicht weil er sich nicht hätte wehren können – nein, er starb, weil er der Einzige war, der die Chance hatte, die Beziehung von uns Menschen zu Gott wieder gut zu machen. Er war es, der durch seinen Tod das Opfer erbrachte, dass die Sünde (d. h. die tiefe Trennung zwischen den Menschen und Gott) wieder aufheben konnte. Warum gerade Jesus? Seit mehr als 1500 Jahren glauben wir Christen, dass Jesus Gott und Mensch war. Beides zugleich. Er ist es, der als einziger Mensch die Sünde aller Menschen auf sich nehmen konnte, da er zugleich Gott und somit frei von Sünde war.

Im Buch Matthäus wird das Sterben von Jesus eindrücklich geschildert (Mt 26-27). Seine letzten Worte zeigen seinen tiefen Schmerz. Und in dieser Todesnot verflucht er nicht die Welt, bereut er nicht, dass er jemals in die Welt gekommen war. Nein, er schreit zu seinem Vater im Himmel, spricht aus, was er an Furcht und Angst erleidet und teilt seine tiefste Not. Mit Worten des 22. Psalms beschreibt er das, was er fühlt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Besondere Worte

Was ist an diesen Worten so besonders? Als erstes fällt auf, dass Jesus hier ein Gebet spricht. Er wendet sich an Gott, den Vater. Er schreit in seiner Todesnot zu ihm. Er leiht sich Worte des Beters von Psalm 22 und macht sich diese zu eigen. Er teilt seinem Vater ganz ehrlich mit, was er in diesem Augenblick spürt. Er fühlt sich von seinem Vater verlassen. In seiner schlimmsten Stunde hielt er an seiner Beziehung zu seinem Vater fest.

Als zweites fällt auf, dass Jesus sich hier von seiner verletzlichen Seite zeigt. Nicht der große Sieg über die Sünde steht hier zuerst im Mittelpunkt. Nein, Jesu verletzliche Seite steht im Fokus. Er ist es, der sich verletzlich macht. Er ist bereit, diese Schmerzen und die tiefste Todesnot auf sich zu nehmen. Jesus lässt sich halb nackt ans Kreuz nageln, bespucken, verleumden und verraten. Der König der Welt geht diesen Weg in dem Risiko, dass dies seinen Ruf und sein Leben kosten wird.

Jesus ist bereit, die tiefste Todesnot auf sich zu nehmen.

Als drittes fällt auf, dass Jesus durch seine Verletzlichkeit letztlich den Sieg über unsere Sünde erbringt. Somit werden wir frei von der Sünde, der Verletzung in unserem Leben schlechthin. Durch seinen Tod geschah das, was wir Menschen niemals – auch nicht mit größter Anstrengung – hätten schaffen können: Die Vergebung Gottes erlangen.

Eines bleibt allerdings: Jesu Wunden vergehen nicht. Nach der Auferstehung können die Jünger seine Wunden sehen (Joh 20,24-29). Dort, wo die Nägel durch seine Hände und Füße gebohrt wurden. Jesus trägt die Spuren seiner Verletzungen. Die Narben der Kreuzigung bleiben. Sie bleiben als ein Zeichen für das, was Jesus für uns getan hat: Er hat sich für uns verletzlich gemacht und ist am Kreuz gestorben, damit unsere Sünde vergeben wird. Diese Gewissheit bekommen wir im Abendmahl durch den Zuspruch „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Geschenkt.

Abendmahl – selbst verletzlich sein

Beim Abendmahl begegnen wir uns als verletzliche Menschen. Menschen, die Gottes Erbarmen nötig haben, um Vergebung ihrer Sünde bitten und darauf hoffen, dass Jesus sie wieder annimmt. Das Abendmahl ist der Ort, an dem sich meine Verletzlichkeit zeigt. Es erinnert mich daran, wie Jesus selbst gelitten hat und mir in seiner Verletzlichkeit begegnet. Darum fasse ich den Mut, ihm meine Verletzlichkeit zu zeigen. Viele Jesus-Geschichten weisen uns darauf hin, dass er nicht mit der Axt in die Wunde haut, sondern behutsam die Menschen auf ihre Verletzlichkeit anspricht (z. B. Joh 4) und somit Heilung geschehen kann.

Das Abendmahl ist der Ort, an dem sich meine Verletzlichkeit zeigt. Es erinnert mich daran, wie Jesus selbst gelitten hat und mir in seiner Verletzlichkeit begegnet. Darum fasse ich den Mut, ihm meine Verletzlichkeit zu zeigen.

Julia Bazlen

Und so wartet er auch bei mir, bis ich den Mut habe, das Tuch über meiner Wunde wegzunehmen. Ich lasse
ihn dort hinschauen, wo ich selbst lieber die Augen verschließe, anstatt dem Schmerz zu begegnen. Er schaut mich in meiner Verletzlichkeit mit liebevollem Blick an.

Es wird weh tun, wenn er meine Wunden reinigt und sie heilt. Aber wenn ich sie ihm erst einmal hinhalte, dann merke ich auch, dass wir Gefährten im Leid sind. Er zeigt mir seine Narben, die er um meinetwillen erlitten hat. Sie sind verheilt und so werden auch meine Verletzungen heilen: heute, morgen oder erst in der Ewigkeit. Seine Wunden erinnern mich daran, dass er alles bereits getan hat, damit ich heute erste Heilung durch ihn erfahren kann.

Im Wissen darum, dass ich es selbst nicht schaffe, ein Leben zu führen, das Gott wirklich ehrt, nehme ich
immer wieder am Abendmahl teil. Ich komme an den Tisch, bekenne meine Sünden und mache mich vor Gott verletzlich. Ich bin ehrlich zu ihm. Ich erzähle ihm, was ich in letzter Zeit Böses gedacht habe, dass ich meine Mitmenschen mit Worten und Taten oder Desinteresse verletzt habe. Ich erzähle ihm, dass ich keine Lust habe, das zu tun, was er eigentlich von mir will. Oder dass ich ihn so oft nicht verstehe und darum lieber selbst alles in die Hand nehme. All das hat hier Raum. Im stillen Gebet vor dem Abendmahl – oder auch schon zuvor im Gebet mitten im Alltag, wenn ich mal wieder erkenne, dass Gott und ich dringend etwas zu klären haben. Leider ist uns evangelischen Christen in den vergangenen Jahrhunderten die Beichte fast ganz verloren gegangen. Dennoch ist sie so wertvoll. Vor einer anderen Person ehrlich zu bekennen, was uns von Gott trennt, das kostet viel Kraft, macht uns verletzlich, aber letztlich frei. Denn durch den Zuspruch des Gegen übers – „Dir sind deinen Sünden (im Namen Jesu Christi) vergeben.“ – ist bereits alles gesagt. Dieser Zuspruch ist es, der uns Freiheit schenkt und darauf hinweist, wie liebevoll Gott mit unserer Verletzlichkeit umgeht.

Eines Tages werden wir es erleben: Gemeinschaft mit Jesus, geheilte Herzen, die nie wieder verletzt werden. Auf diese himmlische Vollkommenheit freue ich mich schon und hoffe, dass Jesus unsere Herzen schon ein Stück weit auf dem Weg dorthin heilt.

Julia Bazlen

Manche Wunden werden nicht gleich verheilen und manche Narben werden ein Leben lang bleiben. Die
Sehnsucht nach vollkommener Heilung bleibt. Der Schmerz der eigenen Verletzlichkeit hat das Potential, uns immer wieder daran zu erinnern, dass wir Jesus brauchen. Er will unser Herz immer weiter heilen. Eines Tages werden wir es erleben: Gemeinschaft mit Jesus, geheilte Herzen, die nie wieder verletzt werden. Auf diese himmlische Vollkommenheit freue ich mich schon und hoffe, dass Jesus unsere Herzen schon ein Stück weit auf dem Weg dorthin heilt.

Gott macht sich verletzlich. In Jesus sehen wir ganz eindrücklich, wie sehr Gott bereit ist, sich vor uns
verletzlich zu machen. Das macht Mut, auch ihm gegenüber verletzlich zu werden. Vielleicht bereits beim nächsten Abendmahl?!

Julia Bazlen ist Diplom-Theologin und arbeitet als Vikarin in Bad Urach und Seeburg.
Sie liebt Jesus, seine Verletzlichkeit und handgeschriebene Karten.

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