In Poitiers, der Stadt der 100 Kirchtürme, tut sich Erstaunliches. Angestoßen wurde die Veränderung durch ihre Synode im Jahr 1998. Es war tatsächlich die Kirchenleitung, welche im Top-Down-Mechanismus die Einführung neuer Ehrenamtsgemeinden ermöglicht hat.
Unter der Leitung von Bischof Rouet wurden ca. 600 Pfarreien aufgelöst und in eine völlig andere Denkweise überführt. Es geht um die Menschen, nicht um die Struktur. Dem unaufhaltsamen Wandel, auch dem Priestermangel, konnte nur in zwei Weisen begegnet werden: 1. Man legt zusammen und zentralisiert. Oder: 2. Man löst auf und gründet neu – unter anderen Voraussetzungen.
Bischof Rouet war der Meinung: „Es gibt nur eine Zusammenlegung, die wirklich funktioniert, und das ist der Friedhof.“ Daher war die Entscheidung gefallen: Nicht zentralisieren, sondern in die Fläche investieren. Die Gründung von örtlichen Gemeinden war beschlossene Sache. Nach drei Jahren waren 100 dieser Gemeinden entstanden. Diese Geschichte passiert in einem französisch-katholischen Umfeld, die uns in dem Buch „Was wird aus uns, Herr Bischof?“ beschrieben wird.1 Ja, kann das sein? Wir sollen hinschauen, wie „Gott in Frankreich lebt“? Gegenfrage: Warum nicht?
Das Besondere an dem französischen Vorbild ist die radikale Kehrtwende einer volkskirchlichen Institution. Sie erlaubt ungeahnte Freiräume für Ehrenamtliche, ohne sie zu überfordern. Bischof Rouets Kirche fördert und befähigt, sie erlaubt und unterstützt. Und dieser Grundimpuls ist für uns Apis geradezu elektrisierend. Denn unsere Kirche hat mit der neuen Verordnung zwischen Kirche und Pietismus einen Gestaltungsraum für uns eröffnet, der dieser Grundidee sehr nahekommt. Um was geht es bei diesem Wandel? Wie kann Kirche und Gemeinde weitergedacht werden? Die Grundsätze sind schnell beschrieben:
1. Näher an Gott
Alles geht vom geistlichen Leben des Einzelnen aus. Beziehung braucht Zeit. Zeit fürs Gebet und Zeit für sein Wort. Ja, es ist zum Klagen, wie sich die Welt verändert. Keiner kann Kirchenschließungen oder Kürzungen von Hauptamtlichen-Stellen wollen – doch es geschieht. Als Nachfolger Jesu aber ist tief in uns verankert: Die Kirche mag gehen, aber Gott bleibt. Angebote der Apis mögen aufhören, aber Gott bleibt. Vielleicht leben wir in einer Zeit, in der Gott keine Kathedralen, sondern Kapellen baut. In jedem Fall aber wird es neu, spannend, abenteuerlich – was Gott mit uns vorhat, wenn wir den Ort seiner neuen Kapelle bilden wollen. Wie steht es um uns? Gehen oder bleiben? Wenn Gott bleibt, dann bleiben wir auch. Vor Ort.
2. Näher am Menschen
„Bleiben“ ist ein Entschluss, der aus unserer Berufung heraus reifen muss. „Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,13ff.). Die Zukunft entscheidet sich nicht an den Hauptamtlichen, sondern an unserem ehrenamtlichen Verständnis – übrigens auch in Hinblick auf das Ehrenamt der Hauptamtlichen. Christsein ist kein Arbeitsverhältnis, sondern eine Lebenshaltung. Das mag uns in einem Zeitalter von Achtsamkeit und Resilienz ganz neu herausfordern. Und doch muss es kein Wiederspruch sein. Vielleicht erfahren wir neu, dass sich die Wirkung des Salzes gerade inmitten unserer Resilienz entfaltet. Wir sind das Salz, nicht der Salzstreuer. Nur in dieser Denke, wird mein Nächster vom Objekt zum Subjekt. Geben wir uns dafür her? Die Herausforderung liegt im „Verfügbarsein“ – dort sein, wo die Menschen sind: Vor Ort. Plötzlich rückt diese Berufung wieder näher an uns heran. Was wir sind, was wir zu sagen und zu leben haben, soll in unserer unmittelbaren Umgebung zur Wirkung kommen. Wir sind das Salz. Du bist ein Salzkorn.
3. Näher am Mitchristen
Wie kann ich einladend wirken, wenn ich in keine Kirchebund in keine Gemeinde vor Ort habe? Antwort: Du bist die Gemeinde.
Aufschrei! „Du“? Also „ich“? Ist das nicht Blasphemie? Entspannung ist angesagt. Es geht um das einfache Sein, Tun und Bleiben. Jesus legt vor. Er bleibt, er tut, er ist es! Darauf lässt sich gut aufbauen (1Kor 3,5-17). In Poitiers spricht man von fünf gläubigen Personen, die eine „Gemeinde vor Ort“ bilden können. Keiner muss das allein tun, aber es ist an einer Hand abzuzählen. Schauen wir auf Jesus, kann es schon mit wenigen Menschen vor Ort beginnen: „Denn wo zwei oder drei …“ (Mt 18,20). Der Erfolgsfaktor ist hier weder der starke Max, noch die liebevolle Berta. Es ist Jesus selbst: „… da bin ich mitten unter ihnen.“ Es kann also in einem einzigen Haushalt beginnen.
Nähe zulassen
… ist gar nicht so einfach! Wie kommen wir Menschen nahe, ohne auf der einen Seite übergriffig zu werden, und auf der anderen Seite nicht zu vorsichtig zu sein? Biblisch reden wir von der Mission Gottes. Er sendet uns wie Schafe. Und so verhalten wir uns auch: Am liebsten miteinander beim Hirten. Unser Schutzreflex ist es daher, dass wir bei dem Begriff „Mission“ schnell bei Programmen, Gebäuden und Konzepten landen. Haben wir das Leben verlernt?
Wir Apis meinen: Lasst uns neu das Wagnis eingehen, einfach mit Menschen zu leben, und darin Jesus
bezeugen. Konzepte, Veranstaltungen und Bauvorhaben ergeben sich dann nachfolgend – nicht umgekehrt. Fragen kommen auf:
- Auf was lassen wir uns da ein?
- Wird das nicht peinlich?
- Wie ticken die Menschen um uns herum?
- Sind sie überhaupt auf religiöse Fragen ansprechbar?
- Wie finde ich die richtigen Worte?
- Schließlich: Wer könnte mich in meiner Unsicherheit begleiten? Wer fragt, wie es mir darin geht?
Wir wollen das tun. Wir Apis machen uns auf Kundschafter-Reise. Wir suchen zwei Handvoll mutige Ehrenamtsgemeinschaften – also 2-5 Personen –, die sich mit unserem neuen „Landesreferenten für neue Gemeinschaftsformen“, Raphael Schmauder, auf Abenteuertour machen und das Einfache wagen, das so unglaublich schwer ist: Dem Menschen nahekommen – wie Gott es tut. Wer macht mit? Startschuss ist am 1. November
2024 in Korntal.
Matthias Hanßmann
- Reinhard Feiter/Hadwig Ana Maria Müller [Hg.]; 6. Auflage 2014, Schwabenverlag ↩︎