Texterklärung

Lukas erzählt auf seine Weise von der Kreuzigung. Sein Bericht unterscheidet sich von den Berichten der anderen Evangelisten durch folgende Punkte:

  • Jesus unterhält sich mit den zwei Verbrechern, die zeitgleich mit ihm hingerichtet werden.
  • Lukas überliefert uns drei markante kurze Aussprüche Jesu in den Versen 34, 43 und 46.
  • Der Erste, der begreift, dass beim Tod Jesu etwas Außergewöhnliches geschehen ist, ist ein römischer
    Heide. Er sagt nicht, dass Jesus Gottes Sohn ist, sondern nur, dass er ein frommer Mensch gewesen sei.
  • Die Kreuzigungsszene wird (wie öfter bei Lukas) wie ein Theaterstück erzählt, an dessen Ende eine Volksmenge als Chor auftritt.
Wie soll man den Tod Jesu verstehen?

Der lukanische Text gibt keine direkte Antwort auf die Frage, was der Tod Jesu bedeutet oder was durch
ihn verändert worden ist. Die klassische dogmatische Antwort: „Jesus starb für unser Heil.“, finden wir jedenfalls nicht in diesem Text. Wir müssen uns die Mühe machen, es indirekt aus seinem Verhalten und seinen Worten herauszulesen. Meiner Meinung nach beschreibt Lukas die radikale Liebe Jesu zu uns Menschen. Deswegen zunächst ein paar Gedanken dazu, wie wir Menschen normalerweise Liebe praktizieren.

Menschliche Liebe

Wir leben in einer Vertragsgesellschaft. Vertrag meint: Ich gebe dir etwas und du gibst mir etwas zurück. Wir Menschen geben unsere Zeit, Geld, Kraft, Aufmerksamkeit in andere Menschen und dann hoffen wir, dass wir auch mal in die andere Rolle geraten. Also nicht geben, sondern empfangen. Das muss nicht sofort sein. Aber irgendwann in der Zukunft sollte das schon passieren. Es ist ein Tauschgeschäft.

Die Liebe Jesu

Seine Liebe riskiert etwas Großes. Jesus riskiert, nichts zurückzubekommen. Er gibt alles und steht am Ende leer da. Er ist tot. Totalverlust. Seine Liebe geht sozusagen eine ungleiche Beziehung ein. Er gibt alles – und der andere gibt nichts zurück. So eine Liebe nennen wir opferbereit. Es ist eben kein Tauschgeschäft. Jesus liebt radikal. Er riskiert den Totalverlust, wenn er seine Feinde liebt, von denen er garantiert keine gute Gegenleistung erhält. Jesus lebt uns diese Liebe am Kreuz vor. Er verflucht keinen seiner Gegner und Folterer, sondern er bittet: „Vater, vergib ihnen“.

Wer so liebt, ist bereit zu leiden

Und dieses Leiden Gottes dauert bis auf den heutigen Tag an. Denn eine Liebe, die nicht beantwortet wird,
tut weh. Wenn wir das so sehen, dann können wir auf einmal die alten Worte aus dem Passionslied „Nun, was du, Herr, erduldet; ist alles meine Last; ich hab es selbst verschuldet“ verstehen. Gott leidet an uns Menschen, weil wir ihn nicht zurücklieben.

Jesus bittet den Vater, ihm zu vergeben

Noch eine Beobachtung: Es heißt nicht, dass Jesus diesen Leuten vergibt, sondern er bittet seinen Vater,
es stellvertretend für ihn zu tun. Jesus möchte ihnen vergeben, aber in der momentanen Situation übersteigt das seine Kraft und seine seelischen Möglichkeiten. Deshalb delegiert er diese Aufgabe an den Vater. Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Gedanke den Christen in der Ukraine momentan helfen könnte. Was sie gerade erleben müssen, ist abgrundtief grausam. Können sie diesen Tätern vergeben? Sie wollen es bestimmt auf Grund ihres Glaubens. Aber ihre seelische Kraft reicht dafür nicht aus. Gut, dass wir uns in dieser Ohnmacht an Gott wenden können.

Jesu Anspruch an uns bleibt bestehen

Und dann noch etwas: Auch wenn Jesus bereit ist, alles zu geben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten,
wünscht er sich dennoch eine Antwort auf seine Liebe. Im Johannes-Evangelium (Kapitel 21) fragt er Petrus ausdrücklich „Liebst du mich?“ Diese Frage gilt natürlich auch uns heute.

Fragen zum Gespräch
  • In einer guten Freundschaft halten wir es lange aus, dass lange Zeit nur einer gibt. Aber auch hier gilt: Wenn es zu lange einseitig ist, geht die Freundschaft zu Ende. Haben wir das schon einmal erlebt?
  • Es gibt beeindruckende Beispiele, die uns eine Ahnung von dem Wort „Opfer“ geben. Jemand, der alles für andere gibt. Eltern, die sich ihr Leben lang um ihr behindertes Kind kümmern. Wir erzählen uns Beispiele von Menschen, die sich denen zuwenden, die nichts in einem Tauschgeschäft einbringen können und deshalb aus dem üblichen Leben ausgeschlossen sind.
  • „Ich liebe Gott!“ – Kann ich das von mir sagen?
  • Und wenn ich sagen kann: „Ich liebe Gott!“ – wie macht man das eigentlich: Gott lieben?

Dieter Kern

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