Bei der folgenden Version handelt es sich um eine gekürzte Ausgabe des Artikels von Volker Gäckle. Den Artikel in Originallänge kann hier heruntergeladen werden.

Das Lebensgefühl unserer Gegenwart ist von der wachsenden Einsicht geprägt, dass viele Dinge, an die wir uns in Jahrzehnten relativ stabiler Verhältnisse gewöhnt haben, einer rapiden Erosion unterliegen. Am intensivsten ist dieser Eindruck im Raum des Politischen, wo die weltweiten Krisen eher zu- als abnehmen und angesichts der zunehmenden Spannungen die Gefahr eines weltweiten Flächenbrandes am Horizont steht. Wir realisieren, dass in unserem Bildungssystem immer mehr Kinder auf der Strecke bleiben. Die großen Kirchen stehen ratlos vor dem dramatischen Mitgliederschwund, der dazu führt, dass sich unsere großen Volkskirchen bis zum Jahr 2040 halbieren werden. Ein Pfarrplan jagt den anderen, eine Strukturreform die andere.

Diese Dynamik wird auch vor Gemeinschaftsverbänden und vielen freien Werken nicht halt machen. Viele Gemeindeformen, Veranstaltungen, Konferenzen, Arbeitsformen und Aufgabenbereiche, die sich in den letzten Jahrzehnten bewährt haben, sogar gewachsen sind und gut und verlässlich funktionierten, verlieren an Zuspruch, Teilnahme, Resonanz, Besuchern und nicht zuletzt Spenden und Finanzen. Wir sind
gezwungen, bisherige „Zelte“ abzubrechen und uns auf den Weg zu machen, ohne konkret zu wissen, wie genau die Zukunft aussehen kann und wird. Wir werden Suchende und in gewisser Weise Nomaden werden, die mit vielen Zwischenlösungen zurechtkommen müssen.

Die Wucht und die Geschwindigkeit, mit der diese Entwicklung uns alle überrollt, führt nicht selten in eine Schockstarre und zu einem passiven Erleiden der Prozesse. Das ist einerseits verständlich, aber andererseits nicht die angemessene Reaktion. Worum es in den nächsten Jahren nicht mehr gehen wird, ist Wachstum. Worum es aber gehen muss, ist Veränderung! Wir werden mit unseren Gemeinden, Gemeinschaften, Werken und Verbänden nur dann Teil von Gottes Zukunft sein, wenn wir bereit sind, uns und unsere Arbeit zu verändern – möglicherweise sogar radikal zu verändern.

Das Wesen disruptiver und adaptiver Veränderungen

Eine entscheidende Einsicht unserer Tage ist, dass wir es nicht mit den üblichen Veränderungen zu tun haben, durch die jede Zeit mehr oder weniger immer wieder herausgefordert wird. Bei den disruptiven Veränderungen unserer Tage geht es aber um Prozesse, bei denen Grundlagen, Verhältnisse, Traditionen und Strukturen an sich ins Rutschen geraten, abbrechen oder zerstört werden: die abendländische Kultur, die Demokratie, ein gesellschaftlicher Grundkonsens, bewährte Bildungssysteme, die europäischen Volkskirchen. Im christlichen Bereich geht es um Gemeinschafts- und Jugendverbände, Buchverlage, Ausbildungsstätten, Missionswerke … Was wir erleben (und noch erleben werden) sprengt das Gewohnte bei Weitem.

Für diese Entwicklungen reichen technische und strukturelle Veränderungen nicht mehr aus. Eine technische Lösung ist immer die Verbesserung von etwas Bewährtem. In Zeiten disruptiver Veränderungen brauchen wir adaptive Veränderungen, was bedeutet, etwas ganz anders zu machen.

Phänomene der Krise

Am Anfang der meisten Veränderungen steht fast immer ein konkreter Schmerz, der aus einem Problem erwächst.

Haushaltsprobleme

Am spürbarsten wird dieses Problem in der Regel zuerst im Geldbeutel bzw. im Haushalt einer Organisation. Ein Haushaltsloch reflektiert sehr häufig den Unwillen oder die Unfähigkeit, fundamentale Fragen anzugehen und sich über die eigene(n) Identität, Zweckbestimmung und Prioritäten klar zu werden. Weil man sich den bitteren Wahrheiten nicht stellen will, wird so lange Geld verbrannt, bis es nicht mehr geht.

Klimaprobleme

Auf die Haushaltsprobleme folgen fast immer „Klimaprobleme“: Während die einen mit Verdrängung reagieren, kontern die anderen mit Schuldzuweisungen. Solche Reaktionen sind normal: Im Angesicht disruptiven Wandels und adaptiver Veränderungen wollen Menschen keine schwierigen Fragen gestellt bekommen. Sie wollen einfache Antworten, die es aber nicht gibt. Sie wollen nicht hören, dass sie Verluste aushalten müssen, sondern dass die Führungskräfte sie vor den Schmerzen des Wandels beschützen. Diesen Schuh kann und darf sich eine Leitung aber nicht anziehen. Im Hintergrund der meisten Herausforderungen unserer Gegenwart stehen nicht irgendwelche Fehler irgendwelcher Menschen, sondern eine tiefgreifende Veränderung aller Koordinaten.

Theologische Probleme

In christlichen Gemeinden, Werken und Organisationen landen schmerzhafte Debatten um die Notwendigkeiten disruptiver Veränderungen früher oder später bei folgenden Fragen: „Müssten wir nicht mehr auf Gott vertrauen?“; „Müssten wir nicht mehr beten?“; „Müssten wir wieder mehr Buße tun?“.

Es ist niemals falsch, diese Fragen zu stellen. Solche Fragen sollten ein steter Begleiter unseres Lebens sein. Aber in der Situation disruptiver Veränderungen schwingt die ausgesprochene oder unausgesprochene Botschaft mit: Wenn wir Gott mehr vertraut hätten, wenn wir mehr gebetet oder
Buße getan hätten, dann wären wir nicht in dieser Lage und stünden jetzt nicht vor diesen Problemen. Das ist aber falsch. Ganz unabhängig davon, wie viel Gottvertrauen wir haben, wie viel wir beten oder Buße tun, haben wir in der Gegenwart diese Probleme, weil sich die Welt fundamental verändert und uns vor Herausforderungen stellt, für die wir neue Lösungen brauchen. Und: Oftmals werden diese Fragen nicht aus einer geistlichen Perspektive heraus geboren, sondern aus der Scheu vor Veränderungen, vor Konflikten und vor unangenehmen Wahrheiten.

Mehr Gottvertrauen, mehr Gebet und mehr Buße sind nie falsch, im Gegenteil. Aber sie werden nie das Durchleiden schmerzhafter Prozesse ersetzen. Wir dürfen und sollen auch auf Gott vertrauen, wenn wir schmerzhafte Prozesse durchleben müssen. Wir können in dieser Situation Gott nicht die Dinge überlassen, die wir tun müssen. Aber wir sollten Gott umgekehrt die Dinge überlassen, die wir nicht tun können! Der Gemeinde ist nicht die Verheißung gegeben, dass Gott sie vor den Schmerzen der Veränderung bewahrt, sondern die Verheißung, dass „die Pforten der Hölle sie nicht überwinden werden“ (Mt 16,18). Die Idee, Menschen vor schmerzhaften Veränderungen zu bewahren, ist jedenfalls kein christlicher oder biblischer Gedanke. Gott tut das nicht! Er hat es nie getan. Man frage einmal nach bei Mose, Daniel, Jeremia oder den Aposteln Jesu.

Gesundheitsprobleme

Eine besonders bittere Wahrheit ist, dass Gemeinden, Werke und Organisationen (im persönlichen Leben ist es übrigens ähnlich!), die sich zu lange den anstehenden Veränderungen verweigern, früher oder später kranke Mitarbeiter und Menschen produzieren.

Wichtige Fragen in der Krise

Um in einer Situation disruptiven Wandels weiterzukommen, muss sich eine Gemeinde, ein Verband, ein Werk oder eine Organisation Fragen zumuten, die ans Eingemachte gehen:

  • Ist die Arbeit, die wir tun, wirklich wichtig?
  • Ist die Arbeit, die wir tun, möglicherweise für uns selbst wichtiger als für die Menschen, für die wir sie tun
  • Was würde (wirklich) fehlen, wenn es unsere Gemeinde oder Organisation bzw. unser Projekt nicht mehr gäbe?
  • Wer hat das größte Interesse am Fortbestand unserer Arbeit/unseres Projekts/unserer Organisation?
  • Könnte eine andere Organisation unsere Arbeit besser machen?

Wir sollten diese Fragen nicht zu schnell beantworten. In der Regel wohnt in uns allen ein starker Impuls, das, was wir tun, für wichtig zu erklären. Deshalb sollten wir diese Fragen mit uns herumtragen und sie reifen lassen. Es ist von entscheidender Bedeutung, diese Fragen ehrlich zu beantworten, sonst bewegen wir uns in einer ständigen Selbsttäuschung.

Wenn aber diese Fragen ernsthaft und ehrlich durchlitten worden sind, dann können andere Fragen gestellt werden:

  • Was ist von all dem, was wir an geistlichem Erbe empfangen haben, wichtig – und was ist wichtiger?
  • Was wäre zwar schön, wenn es weitergeht, aber was müssen wir unter allen Umständen tun? Es geht um Prioritäten!
  • Was ist unsere ureigenste Aufgabe? Welche Fähigkeiten haben wir? Welche Möglichkeiten sind uns gegeben? Welche Hauptamtlichen brauchen wir dafür? Welche Strukturen? Welche Gebäude? Brauchen wir überhaupt welche?

Die Veränderung beginnt, wenn in den Köpfen das bislang Undenkbare gedacht werden kann.

Weisheiten auf dem Weg der Veränderung

Wenn sich eine Organisation, eine Kirche oder eine Gemeinde auf den Weg adaptiver Veränderungen macht, begibt sie sich notgedrungen auf einen Weg ins Ungewisse. Es gibt für diese Veränderungsprozesse kein Handbuch und keine Landkarte. Das Problem ist, dass niemand vorhersehen kann, ob der Prozess am Ende zu einem Ziel kommt, man wieder festen Grund und eine tragfähige Zukunft findet. Aber es gibt ein paar Weisheiten, die einem helfen, den Weg zu verstehen und auf diesem Weg durchzuhalten.

Wir wissen nicht, ob eine krisenhafte Situation durch Veränderung besser wird, aber wir wissen, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne Veränderung nicht besser wird.
Die einzige Alternative ist es, sich auf einen neuen Weg einzulassen und dieser Weg wird ein Weg des Suchens sein. Es ist ein Weg mit Unwägbarkeiten und unkalkulierbaren Nebenwirkungen. Exakt daran haben die Israeliten Mose nach dem Auszug aus Ägypten immer wieder erinnert: „In Ägypten war es besser …“, „Mit dir sterben wir nur in der Wüste …“ Mit diesen Stimmen müssen alle Führungskräfte rechnen.

„Wer sich mutig auf den Weg der Veränderung macht, wird sich einmal nicht schämen müssen – egal, wo ihn dieser Weg hinführt.“

Wir wissen nicht, ob Experimente erfolgreich sein werden, aber ohne Experimente werden wir es nie
herausbekommen!

In der Krise ist das Experimentieren überlebenswichtig! Möglicherweise wird kein Experiment erfolgreich sein, aber wir sollten diejenigen, die Experimente gewagt haben, nie dafür tadeln!

Bei adaptiven Veränderungen müssen „heilige Kühe“ geschlachtet werden!
Es geht hier nicht um die Wahrheit des Evangeliums, die wir als Gemeinde und christliche Werke nie preisgeben dürfen. Dies würde den Weg der Veränderung an sich sinnlos machen. Es geht hier um Liebgewordenes und scheinbar Unaufgebbares. Die Volkskirchen werden sich in den nächsten Jahrzehnten von dem Ideal der flächendeckenden pastoralen Versorgung verabschieden müssen, vermutlich auch von der parochialen Struktur, mit Sicherheit vom traditionsreichen protestantischen Pfarrhaus, fordernden vielleicht sogar von der dominanten Rolle des Pfarramtes. Viele Ausbildungsstätten stellen auf Online-Lehre um, um zu überleben. Missionsgesellschaften diskutieren über den Begriff des Missionars, der als Berufsbezeichnung mehr und mehr an Profil und Akzeptanz verloren hat.
Wenn eine christliche Organisation den geistlichen Vätern und Müttern treu bleiben will, dann muss sie die Dinge heute anders machen als sie. Das Entscheidende ist nicht, was die Väter und Mütter gemacht haben, sondern wie sie an die Herausforderungen ihrer Zeit herangegangen sind.

Zwischenlösungen sind gute Lösungen!
In Zeiten steigender Meeresspiegel ist eine etwas höher gelegene Insel nicht die endgültige Lösung, aber eine Zwischenlösung. Das gilt auch für unser Thema: In den meisten Fällen ist eine schnelle Antwort nicht möglich. Es zeichnet sich – wenn überhaupt – nur sehr langsam eine Lösung ab. Wenn wir aber eine endgültige Lösung noch nicht sehen können, ist eine Zwischenlösung besser als ein Ignorieren des Problems. Sie verschafft uns Zeit für weitere Einsichten und Lösungen. Der Weg Israels durch die Wüste war ein 40-jähriger Weg mit Zwischenlösungen – und ein Teil der Heilsgeschichte Gottes.

Leitung ist von immenser Bedeutung – aber ein undankbares Geschäft.
Wer in diesen Zeiten Verantwortung in einer Gemeinde, einem Werk oder einer Organisation übernimmt, sollte sich vorher zwei wichtige Dinge klarmachen: Zum einen sind Führungskräfte in unseren Tagen nicht die, die es schlechter machen als die großen Väter und Mütter der großen Vergangenheit. Sie sind nur die, die in herausfordernden Zeiten eine undankbare, aber herausragend wichtige Aufgabe übernehmen. Zum anderen kann es eine wichtige geistliche Aufgabe sein, etwas zu Ende zu bringen. Ich habe großen Respekt vor allen Verantwortlichen, die diesen Mut haben.

Menschen vor Veränderungen bewahren und schonen zu wollen, ist kein Akt der Barmherzigkeit.
Wir müssen in einer Situation adaptiver Veränderungen den Menschen, für die wir Verantwortung tragen, Wahrheiten sagen, die sie nicht hören wollen. Eine Lösung lässt sich nur erreichen, wenn „die Leute mit dem Problem“ auch zu den „Leuten mit der Lösung“ werden. Die Neigung in der Leitung der meisten christlichen Gemeinden, Verbänden oder Werken ist es aber, Konflikt zu minimieren oder sie überhaupt zu vermeiden. Eine entscheidende Fähigkeit auf diesem Weg der Veränderung ist das Aushalten von Hitze, Spannungen und von fehlenden Antworten über eine lange Zeit hinweg. Mose könnte uns in dieser Hinsicht viel erzählen …

Zum Schluss zwei Worte

Mir sind zwei Worte wichtig geworden, die ich mir bei meinen Aufgaben immer wieder vor Augen halte:
„Wie stehen an einer Zeitenwende. Europa verändert sich in Glaubensfragen so dramatisch wie vielleicht seit 1000 Jahren nicht mehr. […] Die spirituelle Revolution, die wir brauchen, ist diese: Wir müssen zu Suchenden werden. Erst wenn wir uns eingestehen, wie radikal sich die Welt verändert hat, werden wir eine radikale Veränderung unserer Kirche wagen.“ – Bischof Heiner Willmer, Hildesheim in: „Die ZEIT“
„Nicht unserer Hoffnungen werden wir uns einstmals zu schämen haben, sondern unserer ärmlichen und ängstlichen Hoffnungslosigkeit, die Gott nichts zutraut.“ – Dietrich Bonhoeffer

Wer sich mutig auf den Weg der Veränderung macht, der uns in diesen Tagen nicht erspart bleibt, wird sich
einmal nicht schämen müssen – egal, wo ihn dieser Weg hinführt. Es sind niemals wir, die die Gemeinde retten müssen. Unsere Aufgabe ist es „nur“, aufzubrechen, Jesu Fußstapfen nachzufolgen und zu suchen, wohin sie uns führen.

Prof. Dr. Volker Gäckle,
Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell

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