Texterklärung

Wohl kaum ein Bibeltext ist so bekannt wie das Gleichnis, das in der Regel mit „Vom verlorenen Sohn“
überschrieben wird. Es reiht sich ein in drei Gleichnisse, in denen es darum geht, dass etwas verloren geht und wieder gefunden wird. Und doch gipfeln alle drei Gleichnisse in die Freude darüber, dass etwas wieder gefunden wird, sei es durch intensives Nachgehen oder nicht nachlassendes Suchen oder – darin liegt der Unterschied des dritten Gleichnisses –, dass eine Umkehr und damit eine Rückkehr erfolgt. Alle drei Gleichnisse gipfeln jedoch darin, dass dadurch große Freude ausgelöst wird und weder Strafe für das Ausbüchsen erfolgt, noch eine Haltung der Gleichgültigkeit über einen Verlust. Das dritte Gleichnis ist das ausführlichste: Es beschreibt den Grund des Weggangs des Sohnes, dessen Erfahrungen und Reue sowie das allseits gütige Verhalten des Vaters, das sich nicht von selbst versteht. Und es reiht noch eine zweite Perspektive an: die des Sohnes, der scheinbar nicht auf Abwege geraten ist, dessen Haltung sich jedoch
ebenfalls als problematisch entpuppt.

Undank ist der Welten Lohn

Eine unverschämte Forderung mit überraschender Reaktion
Der jüngere Sohn fordert sein Erbe in der dreisten Meinung, ihm stehe das zu. Doch jedes Erbe ist ein freies Geschenk der Beerbenden, über das kein vermeintlich Erbberechtigter verfügen kann. Was für ein Skandal! Was für eine Verkehrung! Wird doch damit der Anschein erweckt, als gäbe es einen Anspruch und sei der Vater eigentlich bereits tot – wenn nicht wirklich so doch im übertragenen Sinn. Umso erstaunlicher die gütige Reaktion des Vaters: Ohne jeden Vorwurf teilt er zu seinen Lebzeiten das Erbe auf! Dies überrascht: Der Vater handelt anders, als es zu erwarten ist. Er klammert nicht, weder den Sohn noch seinen Besitz. Sondern er gibt, wenn sicher auch mit einem tiefen Schmerz (vgl. Joh 3,16).

Ein Aufbruch, der zur Enttäuschung wird

Die große Freiheit fordert heraus
Der Sohn verlässt seine angestammte Heimat mit allem Hab und Gut, entfernt sich – buchstäblich – davon. In der Ferne krempelt er sein Leben um: Endlich Freiheit ohne jedes Verbot und ohne jede Einschränkung! Doch die vermeintliche Freude an der Freiheit währt nicht lange: Erstens ist er pleite und zweitens folgt eine große Hungersnot. Die große Täuschung unbegrenzter Freiheit endet im Fiasko. So unverschämt und dreist die Forderung seines Erbteils war, so schlimm endet er nun: bei den Säuen, die als unreine Tiere galten. Und anstelle großer Feste bleibt ihm buchstäblich nur Schweinefraß – und selbst den muss er sich ergaunern. Der großen Freiheit folgt der tiefe Fall. Doch es geht weiter …

Besinnung führt zur Umsinnung

Die frühere Heimat bekommt einen neuen Sinn
Einsicht ist der erste Weg zur Besserung. Doch auch sie ist alles andere als selbstverständlich. Der Sohn erinnert sich an das, was war – mit neuem Blick. Das dreiste Fordern wird zur demütigen Bitte um Aufnahme, nicht mehr als Sohn, sondern als Tagelöhner. Denn die Rechnung ist klar: Die Sohnschaft ist verwirkt. Ein Neubeginn als Sohn auf keinen Fall mehr möglich.

Die Rechnung geht (nicht) auf

Der Vater handelt anders: großzügiger und gütiger als gedacht
Was für ein Vater! Er kommt dem Sohn im wahrsten Sinn des Wortes entgegen. Und noch viel mehr: Der
Sohn wird neu eingekleidet – mit dem besten Gewand! Er darf Schuhe tragen – anders als ein Tagelöhner! Und er bekommt einen Ring als Zeichen: Ich bin des Vaters Kind! Und dazu gibt es ein riesiges Fest. Denn es ging um Leben oder Tod – das Leben hat dank der Güte des Vaters gesiegt. Und doch legt sich ein Schatten auf die Freude: Der ältere Sohn versteht die Großzügigkeit des Vaters nicht. Wie hat er sich doch abgestrampelt, auf was hat er nicht alles verzichtet, um dem Vater zu gefallen. Was für ein erbärmlicher Blick! Denn wenn schon (auf)gerechnet wird, dann lautet die Rechnung anders: Wer beim Vater bleibt, dem bleibt viel erspart. Seine Güte beschenkt und beschneidet nicht. Er (be) rechnet nicht, er liebt. Denn wenn man bei der Liebe rechnet, kommt immer nur eines heraus: ein Bruch.

Fragen zum Gespräch
  • Stellen wir uns vor, die Geschichte wäre heute passiert: Was wäre aus menschlicher Sicht der erwartbare Ausgang?
  • Wie ist das mit Gottes Güte, die zur Umkehr einlädt? Und weshalb liegt bei uns eigentlich „Strafe“, „Vergeltung“ oder „Lohn“ immer so schnell auf der Hand?
  • In welchem der Söhne werden meine Gedanken und Gefühle dazu sichtbar, wie Gott eigentlich handeln müsste – und was verändert sich durch die Gleichnisgeschichte daran?

Stefan Herrmann, Direktor Pädagogisch-Theologisches Zentrum, Stuttgart

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