Lagebeschreibung (Vers 1-10)

Wieder waren die Israeliten in Bedrängnis gekommen. Die Midianiter, ein Nomadenvolk aus der syrisch
arabischen Wüste, hatten die Oberhand gewonnen. Sie zerstörten jedes Jahr die Ernte. Wie ein Heuschreckenschwarm kamen sie mit ihren Zelten und Kamelen und raubten Israel die Existenzgrundlage. Die Israeliten schrien zu Gott. Ein Prophet erinnert sie an Gottes Befreiungstat in Ägypten, aber auch an Israels Ungehorsam, indem es den fremden Göttern Kanaans nach lief. Ihre Not war nicht zufällig so.

Ein Engel und viele Bedenken (V. 11-16)

Bäume sind etwas wert. Joasch hatte einen großen Baum, eine Terebinthe (Luther übersetzte Eiche). Und
er hatte einen Sohn. Der hieß Gideon. Gideon drosch gerade den Weizen in der Kelter. Die Midianiter sollten es nicht mitbekommen. Ein Engel hatte unter dem Baum Platz genommen. Engel sind Boten Gottes, Grenzgänger zwischen Himmel und Erde. Sie können in Menschengestalt erscheinen und sich einmischen.

Der Engel spricht Gideon an, und wie er das tut, bahnt schon die Berufung an: „Der Herr mit dir, du starker Held.“ Gideon macht seinen Bedenken Luft. Es geht nach dem auch heute noch bekannten Schema: Wenn Gott mit uns wäre, warum sind wir dann in dieser Lage? Haben die Väter die Befreiungstat in Ägypten gerühmt, so ist unter der Macht der Midianiter nichts davon zu sehen. Die gegenwärtige sichtbare Machtlosigkeit Gottes wiegt schwerer als seine früher bezeugte Macht.

Daraufhin spricht Gott selbst zu Gideon. Es ist seine verstärkte Zuwendung. Er gibt ihm die Zusage, dass er Israel erretten wird. Gideons Kraft reicht, er braucht nichts weiter. Er soll gewiss sein, dass Gott ihn gesandt hat. Aber Gideon hat neue und doch bekannte Bedenken (1Sam 9,21; 1Kö 3,7; Jer 1,6-8) nach dem Motto: der Kleinste (ärmste, schwächste Stamm in Manasse) und der Jüngste (in der Familie). Ein neues Argument hat Gott nicht. Aber nochmals die Zusage: Ich will mit dir sein. Das ist stärker als die stärksten Bedenken. Gott beruft nicht nach menschlichen Maßstäben. Nicht unsere Größe und Begabung entscheidet. Er macht sich nicht von unseren Voraussetzungen abhängig.

Ein Zeichen zur Vergewisserung (V. 17-21)

Gideon will auf Nummer sicher gehen. Was er gehört und gesehen hat, darf keine Einbildung oder Halluzination sein. Er bittet um ein Zeichen, eine Bestätigung, dass es wirklich Gott ist, der mit ihm redet. Aber zunächst will Gideon dem Unbekannten die Gastfreundschaft erweisen, ganz ähnlich, wie es Abraham und Sara bei den drei Männern getan hatten, die sie besuchten (vgl. 1Mo 18,1-10). Die Bewirtung ist großzügig. Wie lange Gideon dafür brauchte, wird uns nicht erzählt. Verständlich, dass er den Engel gebeten hatte, so lange zu bleiben, bis er wiederkommt.

Was Gideon als Gabe bringt, macht der Engel zur Opfergabe. Er führt jetzt die Regie und weist Gideon an, wie er im Einzelnen vorgehen soll. Die Brühe soll er über das Fleisch gießen. Was nass ist, lässt sich nicht anzünden. Aber Gottes Macht kennt keinen Grenzen (vgl. 1Kö 18,34-38). Der Engel reckte den Stab aus und berührte mit der Spitze das Fleisch und die Brote. Der Stab ist Ausdruck der Macht. Mose hatte einen Stab bekommen. Mit ihm hatte er Machtzeichen vor dem Pharao vollbracht, das Meer gespalten und an den Fels geschlagen. Nicht Wasser wie bei Mose (2Mo 17,3-7), sondern Feuer schießt aus dem Felsen. Das Feuer verzehrt Brot und Fleisch vollständig, und der Engel wird von Gideon nicht mehr gesehen.

Leben und Friede (V. 22-24)

Gideon ist gewiss, dass er den Engel Gottes gesehen hat. Er ist sich bewusst, wie es für ihn hätte ausgehen
können: Er hätte sterben können. Schon Mose hatte es von Gott zu hören bekommen: „Kein Mensch wird leben, der mich sieht“ (2Mo 33,20b). Der Engel ist für ihn nicht weit weg, sondern fast so unmittelbar wie Gott. In seiner Todesangst wendet er sich an ihn. Und Gott sagt ihm: „Friede sei mit dir! Fürchte dich nicht, du wirst nicht sterben.“ Was für eine befreiende Zusage! Zum Dank und zum Gedenken baute Gideon einen Altar, der genau das aufgreift: „Der Herr ist Friede“- wörtlich: Shalom.

Fragen zum Gespräch
  • Sind uns schon einmal Engel begegnet? Kann ich ein Beispiel erzählen?
  • „Ich will mit dir sein“. Welche weiteren Gestalten und Geschichten der Bibel fallen uns ein, die diese Zusage bekommen haben? Und wo ist sie uns schon begegnet?
  • Bonhoeffer hat einmal geschrieben: „Die Unsichtbarkeit (Gottes) macht uns kaputt.“ Damit wollte er sagen, wie schwer es ist, mit anderen von Gott zu reden, wenn wir selbst darunter leiden, dass wir so wenig von ihm sehen. An welche Menschen und Situationen denken wir dabei?

Rainer Kiess

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