Texterklärung

Lukas 9,37 schließt direkt an die Erzählung der sogenannten „Verklärung“ der Jünger an. Drei von Jesus
ausgewählte Jünger – Petrus, Johannes und Jakobus – begleiten ihn auf einen Berg. Dort erscheinen nicht nur Elia und Mose, sondern sie dürfen auch Jesus selbst in seiner göttlichen Herrlichkeit sehen (Lk 9,28-36). Nach diesem beeindruckenden Erlebnis, das vermutlich gedanklich und emotional noch nachwirkte, beginnt unser Textabschnitt. Als Jesus und die Jünger am nächsten Morgen wieder vom Berg herabsteigen, werden sie schon von einer großen Menschenmenge und einem sehr aufgeregten Vater erwartet.

Der rote Faden

Auf den ersten Blick stehen die drei bis vier Abschnitte, in die die Verse 37-50 je nach Übersetzung durch ihre Überschriften unterteilt werden, in keinem direkten Handlungszusammenhang. Und doch entdeckt man beim genaueren Hinsehen ein Thema, dass sich wie ein roter Faden durch die Heilung des Jungen, die Leidensankündigung Jesu, den Rangstreit der Jünger und der Frage danach, wer wirklich zu Jesus gehört, hindurchzieht: Es geht um Macht, Autorität und Größe!

Wer hat die Macht und Autorität?

Einige Verse zuvor: Wir erfahren, wie die Jünger mit Kraft und Vollmacht ausgestattet werden, Dämonen
auszutreiben und Kranke zu heilen. Und sie erleben tatsächlich, dass Kranke durch sie gesund werden, wo
sie das Evangelium verkünden (Lk 9,1.6). Nun bittet der Vater Jesus persönlich, seinen erkrankten Sohn zu heilen, denn was den Jüngern zuvor gelungen ist, können sie nun nicht mehr: Dämonen austreiben und den Jungen heilen (V. 40). Wen genau Jesus mit seiner scharfen Bezeichnung der „ungläubigen und verkehrten Generation“ anspricht, wird aus dem Text nicht eindeutig klar. Eines bleibt aber ohne Zweifel: Jesus hat die Macht und Autorität, Dämonen auszutreiben und den Jungen zu heilen. Er zeigt seine Größe eben darin, dass ihm niemand zu gering ist, sich ihm zuzuwenden und ihm sein Leid zu nehmen. Auch wenn dieser als klein und unbedeutend in der Gesellschaft gilt.

Wer ist der Größte?

Einige Verse danach: Wir lesen, wie ein Streit unter den Jüngern darüber ausbricht, wer der Größte, der Wichtigste von ihnen ist (V. 46). Vermutlich bedingen die Geschehnisse der vorangehenden Tage diesen Streit: Auf der einen Seite stehen die drei wohl vertrautesten Jünger Jesu, die ihn in seiner Herrlichkeit sehen durften. Auf der anderen Seite ist da die Erfahrung des Unvermögens der „zurückgebliebenen“ Jünger angesichts des besessenen Jungen. Und wieder zeigt Jesus an einem Kind, worum es wirklich geht: ein kindliches Vertrauen, einen kindlichen Glauben, der frei von Machtstreben und Heuchelei ist. Wer so glaubt, wer das Kleinste liebevoll aufnimmt, macht sich zum Geringsten, aber nimmt Gott selbst – das Größte – in sich auf. Jesus betont dies in den nächsten Versen noch dadurch, dass er einen Mann, der wahrscheinlich noch wenig von ihm wusste, einen „Kleinen im Glauben“, weitherzig weiter in seinem
Namen wirken lässt. Selbst wenn er nicht, wie die Jünger, regelmäßig mit Jesus unterwegs ist.

Der Tiefpunkt?

In der Mitte dieser beiden Textabschnitte verdichten sich die Fragen um Macht, Größe und Autorität (V. 43b-45), indem Jesus ein zweites Mal ankündigt, dass er sterben wird. Der vermeintliche Tiefpunkt seines Lebens ist eigentlich der Höhepunkt: Er selbst macht sich zum Geringsten, indem er alle Sünden und alles Leid auf sich nimmt, um in der Auferstehung alle Macht, Größe und Autorität in sich zu vereinen. Noch verstehen die Jünger nicht vollständig, wie diese scheinbar paradoxen Maßstäbe groß – klein, mächtig – unfähig, Selbsterniedrigung – Erhöhung im Leben Jesu auf wundersame Weise entfaltet werden und zur Realität eines Lebens mit Jesus dazugehören. Und, mal ganz ehrlich, können wir die Bedeutung davon nicht oft auch nur erahnen?

Fragen zum Gespräch
  • Warum konnten die Jünger den Jungen nicht heilen, obwohl sie zuvor schon die Erfahrung gemacht hatten, Kranke zu heilen und Dämonen auszutreiben?
  • Wie wirken sich die Maßstäbe Jesu „Wer unter euch allen der Geringste ist, der ist in Wirklichkeit groß“ (Lk 9,48; Basisbibel) in meinem Leben aus? Wo wurden sie schon Realität in meinem Leben und wo fällt es mir schwer, danach zu leben?
  • Wie gehen wir mit Menschen um, die noch jung im Glauben sind: Lassen wir ihnen die Freiheit, sich „auszuprobieren“? Wo hat dieses Ausprobieren seine Grenzen?

Carina Baun, Sozialarbeiterin
HoffnungsHaus Stuttgart

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