Ich bin ich und Du bist Du.

Eine intensive Studieneinheit darüber, wer wir sind.

„Sag mir, wer bin ich?“ Wenn wir über die Identität des Menschen reden, dann reden wir über unser Ich, über die schlichte Frage: Wer bin ich? Die wenig überraschende Antwort ist, dass sich unser Selbstbild immer an einem Gegenüber und an den Umständen festmacht. Am Thema selbst finden daher viele Player ihr Interesse. Hier eine kleine Auswahl:

Erik H. Erikson war es, der den Zusammenhang von Zugehörigkeit und Eigenständigkeit herausarbeitete. Das „Me“ (engl. „ich“) steht bei ihm für die Erwartungen, die andere an mich haben. Das „I“ (engl. „ich“) umfasst die eigene Kreativität und Spontanität. Prägungen und Begabungen, kulturelle Einflüsse und eigene Entwicklungen reichen sich die Hand. In jedem Falle aber gilt: Mein Ich, meine Identität, ist nie ohne mein Umfeld, ohne ein Gegenüber zu sehen. Was der Psychologe Erikson im „Me“ und „I“ herausarbeitete, konnte der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber ganz einfach so zum Ausdruck bringen: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Wenn wir aufhören, uns zu begegnen, ist es, als hörten wir auf zu atmen.“ (Martin Buber)

Wer macht mich zu dem, was ich bin?

Es ist Hans Walter Wolff zu verdanken, dass wir beim Aufschlagen der Bibel neben der Frage nach Gott, auch der Frage nach des Menschen Menschsein nachgehen. „(…) die biblischen Zeugen aber kennen keine Menschenlosigkeit Gottes. Schon im Alten Testament erweist Jahwe seine Gottheit eben darin, dass er dem Menschen in Wort und Tat verbunden ist.“1 Gott der Schöpfer macht uns zu dem, was wir sind. Ein Mensch, der in Beziehung zu Gott steht. Wie kann diese Beziehung gelingen? Schnell denken wir an wichtige Eigenschaften wie etwa Treue, Liebe, Verlässlichkeit, Kritikfähigkeit, Demut und Hingabe. Aber Hans Walter Wolff hilft uns, bei den biblischen Begrifflichkeiten zu bleiben. Spannenderweise kommen hier Eigenschaften und Begriffe des menschlichen Organismus zusammen, etwa das Herz als Ort des Verstehens, die Niere als Sitz des Gewissens, die Atemwege als Ausdrucksort der Seele. Unsere Identität
entfaltet sich ganzheitlich. Mensch zu sein ist, wie Gott uns definiert. Wenn man so will: Der Sinn des Lebens ist es, diese Identität anzunehmen und zu leben. Wir sollen ganz Mensch sein, wie Gott es bestimmt hat.

Da ist einer, der sich um Dich sorgt

Wir entfalten eines der identitätsstiftenden Worte, wie wir sie in der Bibel finden: Nehmen wir das Wort „näphäsch“ (hebr.). Martin Luther übersetzt es schlicht und einfach mit dem Wort „Seele“. Nur – was steckt für ein Verständnis dahinter, wenn wir heute von „Seele“ reden? Ein Beispiel: Wir singen in dem schönen Lied „Ewigkeit“ der „Outbreakband“ folgende Zeilen: „Auch wenn ich sterben werde, weiß ich, dass meine Seele ewig lebt. Und diese Hoffnung wird mich tragen, bis ich dir gegenüber steh. Was ist hier mit dieser Seele gemeint? Ein nichtgreifbarer Geist, der in uns wohnt, sich nach dem Tod vom Körper löst und zum Himmel aufsteigt? Tatsächlich habe ich selbst noch erlebt, dass Hinterbliebene das Fenster im Sterbezimmer geöffnet haben, damit die Seele nach dem Sterben aus dem Körper und Gott entgegenfliegen könne. Einig sind wir, dass hinter der Seele (hebr. „näphäsch“) das Eigene, das Innerste eines Menschen gemeint ist. Es lohnt aber, noch genauer hinzusehen. Denn die Seele ist mehr als das an den Körper gebundene „Ich“.

Die Seele als „Kehle, Rachen und Schlund“. Habakuk 2,5 erzählt uns vom Menschen, der seinen Rachen (seine Seele) so weit aufreißt, wie wir es nur aus der „Unterwelt“ kennen. Gierig und unersättlich frisst sie sich durch, ohne satt zu werden. Michael Herbst berichtet von Karin Struck2, die in einem Buch beschreibt, wie das Essen als Weltaneignung und als Identitätssuche erlebt wird. „Das Warme und Knusperige suche ich in der größten Verlassenheit.“ Die Bedeutung des Essens, oder des Nichtessens, wird uns schnell klar. Essstörungen haben mit unserer Persönlichkeit, mit unserer Identität („näphäsch“) zu tun. Die Seele steht dem Körper nicht gegenüber. Die Seele ist auch Körper. Der Körper ist nicht der Feind, nicht die Last, sondern es ist eins. Deswegen schreibt der große Seelsorger Eduard Thurneysen: „Seelsorge ist nicht Sorge um die Seele des Menschen, sondern Sorge um den Menschen als Seele“.3 Leider neigen wir bis heute dazu, das Innere die Seele zu nennen, und die Äußerlichkeit dem Körper zuzuschreiben. Folgerichtig können wir z. B. die Sexualität nicht als tiefsten Ausdruck der Seele und der eigenen Identität erleben. Die Folge ist, dass wir sie wie eine Äußerlichkeit in allen Variationen problematisieren.

Uns wird deutlich: Wenn wir für unsere Seele sorgen, dann sorgen wir uns um unsere Identität als Ganzes.
Dort, im „näphäsch“ sind auch unsere Empfindungen und Emotionen beheimatet. Es ist kaum besser zu beschreiben als im Schöpfungsbericht. Dort blies Gott dem Menschen den Odem – (hebr. „näphäsch“!) ein. „Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.“ Adam, der Mensch wird zu einem lebendigen Ganzen. Der Mensch ist ein Ganzes. Er ist „beseelter Leib, leibhafte Seele, von Gott zum Leben erweckte Einheit und Ganzheit von Seele und Leib“.4

Die Frau am Jakobsbrunnen erlebt bei Jesus, wie ihr Lebensdurst gestillt wird.
Wer stillt den Durst meiner Seele?

Der biblische Blick auf unsere Identität offenbart auch die eigene Bedürftigkeit. „Meine Seele schreit zu Gott, wie es ein Hirsch tut, der Durst hat“ (Ps 42). Hier schreit die ganze Identität: Der Körper, die Gedanken und Empfindungen. Die eigene Geschichte und die der anderen gehen an die Substanz. Wer sorgt sich nun um meine Seele, um mein ganzes Ich? Der Durst ist wird ganzheitlich empfunden. Wer stillt diesen Durst? „Wenn du wüsstest, wer der ist …“ sagt Jesus zur lebensdurstigen Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4). „Du würdest ihn bitten“ – prophezeit Jesus ihr und uns. Bei Jesus wird der Seelenbrand gelöscht. Bei Jesus findet der Mensch die ersehnte große „Ruhe“ (Hebr 4), den umfassenden Frieden (Eph 2,14), die Freiheit (Joh 8,36) und die umfassende Versöhnung mit Gott und den Menschen (2Kor 5,20). So findet der Mensch zu seinem Menschsein zurück. Der Mensch wird zum Menschen – zur Identität, die aus Gott kommt.

Ich bin Du und Du bist ich

Als Kind spielten wir „Old Shatterhand und Winnteou“. Als Erwachsene erkennen wir die Bedeutung von Empathie und Achtsamkeit. Sie hat etwas mit Rollentausch zu tun. Es ist die Fähigkeit, sich ganz auf die Rolle des anderen einzulassen. Wir sehen, wie die Beziehung ein Wechselspiel der sich gegenüberstehenden Identitäten darstellt. „Sage mir, mit wem du umgehst, so sage ich dir, wer du bist“.5 Die Fähigkeit zum Rollenwechsel nennen wir auch gerne „Sozialkompetenz“. Man kann nicht genug davon haben. Es ist eine große Stärke, wenn man ganz bei sich und ganz beim anderen sein kann. Wir Christen sollten die Empathie als Königsdisziplin der „geistlichen Übungen“ ansehen.

Gemeinschaft lebt vom gegenseitigen Du. In der Bibel begegnet uns in diesem Zusammenhang der Begriff des Dienens und der Hingabe. Wie Christus sich ganz in die Welt hineingegeben hat, soll die Gemeinde die Fähigkeit besitzen, sich ganz dieser Welt zuzuwenden. Wir sollen an seiner statt den Menschen das Wort der Versöhnung bringen (2Kor 5,20). Gott traut uns das zu!

Wir sind Gemeinschaft: Der Ort gelebter Identität

Gelebte christliche Gemeinschaft ist im Bestfall ein Beziehungsgeflecht unter Menschen, die ihre Identität des Menschseins vor Gott gefunden haben, und diese neu gewonnene Freiheit miteinander in tiefer Verbindlichkeit leben. Freiheit auf der einen, Bindung auf der anderen Seite. Das mag sich zuerst widersprüchlich anhören. Jesus selbst formuliert es in diesem Spannungsbogen: „Wenn ich euch frei mache, so seid ihr recht frei“ (Joh 8,36) – und „ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete“ (Joh 15,14). Unser Widerstand gründet sich darin, dass wir Freiheit und Bindung nicht gemeinsam denken
können. Zugehörigkeit und Eigenständigkeit sind für uns Individualisten kaum vereinbar. Das Wort Gottes sagt: Wer sich an Gott bindet, findet und bewahrt seine Identität. Seit dem Sündenfall gehört es zum Menschen, dass er „nicht wollen kann, dass Gott Gott sei“ (nach Luther). Der Mensch selbst will das Maß seiner selbst sein. Dieser Gedanke ist ein Irrläufer, wenn man daraus den Schluss zieht, dass der Mensch hier seine eigene Identität finde könnte. Ganz im Gegenteil: Das Ich findet sich im Du.

Gelebte christliche Gemeinschaft ist im Bestfall ein Beziehungsgeflecht unter Menschen, die ihre Identität des Menschseins vor Gott gefunden haben, und diese neu gewonnene Freiheit miteinander in tiefer Verbindlichkeit leben.

Matthias Hanßmann
Wie gelingt nun das Leben in Form gelebter Gemeinschaft?

Unsere Identität hat Auswirkung auf das Ganze.6 Der Gehirnforscher Manfred Spitzer7 bringt uns auf den
Trichter. Er entfaltet das starke Wir. Die Identität des Einzelnen macht die Gruppe als Ganzes stark. Dazu brauche es den „kooperativen“ Menschen. Soll ein Volk, eine Gemeinschaft, eine Familiendynastie nicht nur überleben, sondern wachsen, dann brauche es in dieser Kooperation Menschen, die bereit sind, sich aufzuopfern (altruistisches Verhalten). Die Bibel beschreibt diese Kooperation im geistlichen Sinne als „Gemeinschaft“ (gr. „koinonia“). Die Grundausrichtung jeder christlichen Gemeinschaft fokussiert sich auf Jesus hin. „So seid nun unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus entspricht … der selbst Knechtsgestalt annahm“ (Phil 2). Hingabe ist dabei nicht mit Identitätsaufgabe zu verwechseln. Vielmehr bedeutet es, seine umfassende Identität (mit allen Fähigkeiten und Gaben), also seine Bestimmung und Berufung, ohne Vorbehalte in die Gemeinschaft einzubringen. Ein Beispiel im Bild: Der laute Vogel stärkt
und schützt die Gemeinschaft durch seinen herausstechenden Warnruf. Gleichzeitig sind es genau diese
Vögel, die sich identifizierbar und somit angreifbar machen. Der Einsatz des eigenen Ichs fürs Ganze mag auf den ersten Blick persönliche Nachteile bringen. Tun es jedoch alle, gewinnen auch alle.

„Sag, wieviel Seelen hat deine Gemeinde“?

So wurde ich immer wieder gefragt. Darf man so fragen? Ich finde: Ja. Der biblische Hirte geht durch seine Herde und zählt sie. Er kennt sie alle mit Namen. Erkennbar werden die „Seelenschafe“ für den „Hirten“ als Ganzes (hebr. „näphäsch“). In der Summe prägen sie die ganze Herde zu einem Bild. Zusammengehörigkeit entsteht durch die Fähigkeit aller, sich eine gemeinsame Identität zu schaffen. Wir = Singular im Plural: Wir, das ist die eine Herde, bestehend aus vielen Schafen. Als Gemeinschaft gewollt, findet der Einzelne seine Heimat, seine Zugehörigkeit, seine Geborgenheit und seinen Identitätsbezug in einem großen Ganzen. Als Einzelnes Individuum namentlich bekannt, als Ganzes eine sichtbare Größe in dieser Welt.

Matthias Hanßmann, Pfarrer, Vorsitzender der Apis

Quellen:
2Herbst, Michael. Beziehungsweise, 2012, S. 184.
3Thurneysen, Eduard. Rechtfertigung und Seelsorge, 1928, S. 209.
4Herbst, Michael. S. 186.
5Johann Wolfgang von Goethe
6Rosa, Hartmut. Resonanz der Weltbeziehung. Rosa entfaltet die Chance zu einem guten Miteinander am
Begriff des „Resonanzverhältnisses“. Was wir tun und denken bleibt nicht ohne Widerhall.,
7Spitzer, Manfred. Lernen. 2002, S. 294-295.

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