Bei einem Wort, das wie „Gerechtigkeit“ über 300 Mal in der Bibel vorkommt, ist davon auszugehen, dass die inhaltliche Bedeutung ein gewisses Spektrum aufweist. Die wichtigste Unterscheidung besteht im Blick auf das Subjekt. Ist von Gottes Gerechtigkeit oder von menschlicher Gerechtigkeit die Rede? Ist von der Gerechtigkeit Gottes die Rede, dann geht es – kurz zusammengefasst – um das, was Gott für das Heil der Menschen tut. Im Blick auf die menschliche Gerechtigkeit kann uns das Vorkommen beim Propheten Amos für das Verständnis helfen.

Gerechtigkeit und Recht

Dreimal kommt Gerechtigkeit in Amos vor (5,7.24; 6,12). Zweimal wird die Verkehrung, also der Missbrauch der Gerechtigkeit kritisiert (5,7; 6,12). An der dritten Stelle wird Gerechtigkeit gefordert (5,24). An allen drei Stellen steht Gerechtigkeit zusammen mit Recht, auch sonst ein häufig vorkommendes Begriffspaar im Alten Testament. Was Gerechtigkeit bei Amos (und auch an anderen Stellen im Alten Testament) meint, lässt sich über das Begriffspaar erklären.

Recht ist das von Gott gegebene Gebot. So steht Recht (in der Mehrzahl „Rechte“) als Überschrift über 2. Mose 21-23, dem sogenannten Bundesbuch. Das Bundesbuch zeichnet sich durch Rechte für den sozialen Umgang mit dem Nächsten aus. In Auswahl seien genannt: die Rechte hebräischer Knechte und Mägde; Schutz von Fremdlingen, Waisen und Witwen; Verhalten gegenüber Armen;

Wahrhaftigkeit im Gericht; Hilfe gegenüber dem Feind. Recht ist also die in der Tora (Gesetz) schriftlich fixiert konkrete Anweisung für den Umgang miteinander mit einem hohen sozialen Ethos.

Innere Haltung

Amos wirft einer wohlhabenden Oberschicht seiner Zeit vor, dass eben dieses Recht gebrochen wird. Deutlich wird dies an einer Aufzählung in Amos 2,6-8. Das Verhalten richtet sich gegen die Armen. Ein konkretes Beispiel ist das Schlemmen auf gepfändeten Kleidern (Am 2,8; vgl. 2Mo 22,25-26).

Was bedeutet dann in diesem Wortpaar „Gerechtigkeit“? Während Recht das schriftlich klar formulierte Gebot meint, steht Gerechtigkeit für die innere Haltung dazu. Das Recht soll aus innerer Überzeugung getan werden. Somit steht Gerechtigkeit auch für eine positive und helfende Gesinnung gegenüber dem Nächsten, insbesondere den Armen, Schwachen und Rechtlosen.

Amos 5,24 fordert Recht und Gerechtigkeit ein, weil sonst der Gottesdienst von Gott nicht angesehen wird (Am 5,21-23). Gerechtigkeit Gottes und Gerechtigkeit des Menschen berühren sich doch: es geht um die Hilfe für den Nächsten.

Pfr. Dr. Hartmut Schmid, Professor für Altes Testament an der Internationalen Hochschule Liebenzell

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