Die Bibel hält beim Lesen immer wieder Überraschungen bereit. Eine davon sind die Psalmen. Die meisten Psalmen sind Lieder und Gebete. In jedem Fall sind es Texte, in denen Menschen zu Gott sprechen, sich mit ihrer Not oder ihrem Lob an ihn wenden. Doch wie kann es sein, dass eine solche Sammlung menschlicher Texte Teil der Heiligen Schrift ist? Und mit welchem Recht werden diese Lieder und Gebete dann im Neuen Testament ganz selbst verständlich als Gottes Wort zitiert?

Gut durchdacht und prägnant formuliert

Als Gebete sind die Psalmen zunächst Worte von Menschen an Gott. Beim Lesen merkt man allerdings sehr schnell, dass dies nicht irgendwelche Worte sind, die jemand mal eben so formuliert hat. Die Psalmen sind poetische Texte, teils rhythmisch geformt, in jedem Fall aber inhaltlich dicht und gesättigt mit Bildern und Vergleichen. Das beginnt gleich in Psalm 1: „Wer zu Gott gehört ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, das gerät wohl. Aber so sind die Gottlosen nicht, sondern wie Spreu, die der Wind verstreut.“ Das ist ein sehr eindrücklicher Kontrast, der auch nach über 2000 Jahren nichts von seiner Klarheit verloren hat!

Oder Psalm 13: Mit nur sechs Versen ist dieser Psalm vergleichsweise kurz. Aber in diesen wenigen Sätzen durchschreitet der Beter einen Weg von der tiefsten Klage („Herr, wie lange?“) hin zu einem erneuten Lob Gottes („Ich will dem Herrn singen, dass er so wohl an mir tut.“). Ein so sorgfältig aufgebautes Gebet fällt einem nicht spontan ein. Dazu braucht es Ruhe und Zeit zur Überarbeitung. Dann erst wird daraus ein so prägnanter und inhaltlich gefüllter Text. So wie uns diese Verse jetzt im Psalter überliefert sind, lassen sie sich in ganz unterschiedlichen Krisensituationen nachbeten und für das eigene Gebet aneignen – gerade auch dann, wenn man selbst keine eigenen Worte mehr hat.

Redet Gott durch menschliche Weisheit?

Auch als bewusst durchdachte und sorgfältig formulierte Gebete bleiben die Psalmen zunächst menschliche Worte. Zwischen den von Gott gegebenen 10 Geboten und den prophetischen Visionen eines Jesaja wirkt das erst einmal ungewöhnlich. Doch in der Bibel sind noch andere Texte gesammelt, für die das in ähnlicher Weise gilt. Direkt vor den Psalmen steht das Buch Hiob, das in seinen poetischen Stücken manche Ähnlichkeiten mit den Psalmen erkennen lässt. Auch im Buch Hiob reden und diskutieren
vor allem Hiob und seine drei Freunde. Und nach den Psalmen folgen die Sprüche, eine Sammlung von Weisheiten und Einsichten mitten aus dem Leben. Wiederum finden sich manche Überschneidungen mit Gedanken und Formulierungen aus den Psalmen.

Denn es hatte sich gezeigt, dass auch durch diese Schriften der Gott Israels sich und sein Wirken den Menschen erschließt und verständlich macht.

Dr. Christoph Rösel

Allen diesen Texten gemeinsam ist, dass sie sich in der Zeit des Alten Testaments im religiösen Leben Israels und Judas bewährt haben. Im Gottesdienst, in der persönlichen Frömmigkeit, im Nachdenken über die richtige Lebensführung wurden diese Texte verwendet und von Generation zu Generation weitergegeben. Daneben gab es sicher noch andere Texte,
die eine Zeit lang in Gebrauch waren, dann aber wieder in Vergessenheit gerieten. Doch diese Texte, die wir jetzt z. B. aus dem Buch der Psalmen kennen, waren anders. Deshalb wurden sie dann auch in die Sammlung der heiligen Schriften Israels aufgenommen. Denn es hatte sich gezeigt, dass auch durch diese Schriften der Gott Israels sich und sein Wirken den Menschen erschließt und verständlich macht.

Das Buch Davids

Und so wie die ersten fünf Bücher des Alten Testaments mit Mose verbunden wurden, so wurden die Psalmen insgesamt zum Buch Davids. Um diese Parallele zu unterstreichen, wurden die Psalmen ebenfalls auf 5 Bücher aufgeteilt: Am Ende der Psalmen 41, 72, 89 und 106 steht jeweils eine kurzer Lobpreis Gottes, der diese Unterteilung markiert. In der Lutherbibel oder der BasisBibel ist dann vor dem folgenden Psalm zur Verdeutlichung jeweils eine kleine Zwischenüberschrift eingefügt. Vor Psalm 73 heißt es etwa „Drittes Buch“. So wie der Pentateuch, die fünf Bücher Mose, ist damit auch der Psalter als das Buch Davids ein fünfteiliges Buch.

Weil jeder Psalm ein in sich eigenständiger Text ist, kann man bei diesem Buch eigentlich überall anfangen
zu lesen. Man kann es einfach so aufschlagen und mit dem Psalm beginnen, den man dann vor sich hat. Doch ähnlich wie bei einem Gesangbuch gibt es auch in den Psalmen eine inhaltliche Ordnung. Im Evangelischen Gesangbuch etwa stehen am Anfang Lieder zu den großen Festen des Kirchenjahres. Jede Rubrik beginnt mit einem besonders wichtigen Lied, alle weiteren sind dann nach der Zeit ihrer Entstehung geordnet. Und da das Kirchenjahr mit dem 1. Advent beginnt, ist „Macht hoch die Tür“ die Nummer 1!

Weil jeder Psalm ein eigenständiger Text ist, kann man einfach da anfangen, wo man möchte.
Gleichzeitig folgt das Gebetbuch einer inneren Logik.
Psalm 1 und 2 als Vorwort zum Psalter

Bei den Psalmen fehlt leider die Beschreibung, warum sie in genau dieser Abfolge angeordnet wurden. Aber es ist sicher kein Zufall, dass die Sammlung mit dem Text eröffnet wird, den wir jetzt als Psalm 1 kennen. Am Anfang dieses Psalms steht ein Lobpreis des Lesens und Nachsinnens über die Weisung Gottes: „Glücklich ist der Mensch, der nicht dem Vorbild der Frevler folgt und nicht den Weg der Sünder betritt. Mit Leuten, die über andere lästern, setzt er sich nicht an einen Tisch. Vielmehr freut er sich über die Weisung des Herrn. Tag und Nacht denkt er darüber nach und sagt Gottes Wort laut vor sich hin“ (Ps 1,1-2, BasisBibel). Schon diese ersten Verse lassen erkennen, dass längst nicht jeder die Psalmen so schätzt wie der Verfasser von Psalm 1. Es sieht eher so aus, als wäre er gegenüber den Frevlern, Sündern und Lästerern in der Minderheit. Deshalb zieht er zunächst eine klare Grenze zwischen denen, die auf Gottes Wort hören, und den anderen. Beim weiteren Lesen der Psalmen wird sich zeigen, dass diese Grenze im wirklichen Leben häufig alles andere als eindeutig ist. Der Beter von Psalm 73 etwa verzweifelt
fast daran, dass er sie in seiner Situation gerade nicht erkennen kann. Doch Psalm 1 will zunächst einmal Orientierung geben, die große Richtung zeigen: Es kommt alles darauf an, zu Gott zu gehören und auf seine Weisung zu hören. Wer diese Entscheidung für sich getroffen hat, der kann sich dann auch den
vielen Fragen stellen, die ihm in den folgenden 149 Psalmen begegnen werden.

Auch Psalm 2 gehört noch zum „Vorwort“ des Psalters. Das zeigt sich z. B. daran, dass er wie Psalm 1 im hebräischen Text keine Überschrift hat. Ab Psalm 3 dagegen beginnen (fast) alle Psalmen bis Psalm 41 mit „Ein Psalm Davids“. Psalm 2 führt ein ganz anderes Thema ein als Psalm 1. Es geht dort um die Einsetzung eines neuen Königs auf dem Berg Zion, also in Jerusalem. Gott selbst setzt diesen König ein. Als Spiegelbild zu Psalm 2 beschreibt später Psalm 89, dass der König in Jerusalem von Gott verstoßen wird, weil er sich nicht an Gottes Ordnungen gehalten hat. Ab Psalm 90 folgen dann Texte, in den Gott selbst als der himmlische König gepriesen wird, der die Welt regiert und bewahrt. Auch David als König und Beter tritt nach Psalm 89 in den Hintergrund. Die meisten Psalmen, die durch Hinweise in der Überschrift mit Situationen aus dem Leben Davids verbunden sind, finden sich deshalb vor Psalm 89 (zum Beispiel Ps 3; 51; 52; 54; einzige Ausnahme ist Ps 142).

Wichtig ist in jedem Fall auch, dass die Psalmen insgesamt eine Bewegung von der Klage, dem Aussprechen der Not vor Gott, hin zum Lob Gottes erkennen lassen.

Dr. Christoph Rösel
Noch mehr Überraschungen

Diese wenigen Beobachtungen deuten schon an, dass es in den Psalmen noch manches zu entdecken gibt. Wichtig ist in jedem Fall auch, dass die Psalmen insgesamt eine Bewegung von der Klage, dem Aussprechen der Not vor Gott, hin zum Lob Gottes erkennen lassen. Das gilt für einzelne Gebete wie etwa Psalm 13 oder Psalm 22, das gilt aber auch für das Buch insgesamt. Überprüfen Sie das doch am besten gleich selbst und vergleichen Sie einmal Psalm 3-5 mit Psalm 150. In Psalm 150,6 heißt es ganz am Schluss des Psalters: „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn! Halleluja!“ Mehr Lob geht nicht.

Mein Lieblingspsalm

Die Psalmen als Gebete in unterschiedlichsten Situationen eröffnen uns einen ganz eigenen Zugang zur
Heiligen Schrift und ihrer Botschaft. Eine der Überraschungen, die ich irgendwann beim Lesen erlebt habe, ist Psalm 93. Über die Jahre hinweg ist dieser Psalm zu meinem Lieblingspsalm geworden, auf den ich immer wieder zurückkomme. Psalm 93 preist Gott als himmlischen König. Aber das Geschehen auf der Erde, im Psalm beschrieben als das Stürmen und Tosen des Meeres, stellt diese Herrschaft in Frage. Doch mitten in allem Tosen heißt es dann in Vers 4: „Gewaltig ist das Getöse der Wasserfluten. Noch gewaltiger sind die Brecher des Meeres. Am mächtigsten aber ist der Herr in der Höhe.“

Und so wie Psalm 23 uns in den ganz persönlichen Schwierigkeiten unseres Lebens tröstet, so gibt uns Psalm 93 Zuversicht für die großen Fragen dieser Zeit: „Deine Gebote stehen zuverlässig fest. Heiligkeit schmückt dein Haus, Herr, für alle Zeiten“ (Ps 93,6, BasisBibel). Vielleicht findet nicht jeder Zugang zu gerade diesem Psalm. Aber wenn Sie sich Zeit für das Lesen und Beten der Psalmen nehmen, werden auch Sie Überraschungen erleben.

Dr. Christoph Rösel ist Generalsekretär der Deutschen Bibelgesellschaft

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