Wer stärker ist, gewinnt. In relativ vielen Lebensbereichen mag das so oder ähnlich gelten. Höher, schneller, weiter. Auch in der Musik kann man die Beobachtung machen, dass musikalisches Können in erster Linie an der Virtuosität gemessen wird. Der oder die Beste ist, wer die Arpeggien, Tonleitern und Skalen am schnellsten und sichersten präsentieren kann. Virtuose Musik stellt besonders hohe Anforderungen an die technischen Fähigkeiten des Spielers – und ist dadurch eben auch besonders beeindruckend. Der Respekt ist dem Meister sicher.

Interessant ist allerdings, dass es in allen Epochen die eindeutige Erkenntnis gab: Zwischen den lebhaften
„Allegro“- und „Presto“-Sätzen braucht es immer wieder ein „Adagio“. Mit „Adagio“ wurde ein langsamer Satz bezeichnet, der ein Gegengewicht zu dem „höher, schneller, weiter“ bildete. Adagio ist italienisch und bedeutet „langsam, gemächlich“. Aber es bedeutet auch „behutsam, vorsichtig“.

Unverzichtbar – und doch schwierig

Das Besondere an diesen langsamen Musikstücken ist, dass wir beim Zuhören zur Ruhe kommen können. Wir hören Nuancen, kleine Feinheiten. Wir können eine Stecknadel fallen hören – oder eben auch das Atmen des Solisten. Reizvolle harmonische Wendungen können wir mitvollziehen. Klänge können sich ohne Hast entwickeln. Spannung und Entspannung zwischen Dissonanz und Konsonanz erleben wir intensiver. Dabei ist es keineswegs einfacher, dieses langsame Tempo zu spielen. Die Konzentration in den langen Tönen und die Spannungsbögen über das ganze Stück zu halten – das erfordert genauso oder erst recht meisterliches Können.

Tempo rausnehmen

Die Verlässlichkeit und Unverzichtbarkeit des Adagio in der Musik kann wie ein Gleichnis für unser Leben sein: Wir brauchen dieses bewusste Tempo-Rausnehmen. Und zwar regelmäßig, in jedem größeren Werk. Es geht nicht ohne. So anregend und vitalisierend es auf der einen Seite ist, Geschwindigkeit zu erleben, so wichtig ist Ruhe und Behutsamkeit für unser inneres Gleichgewicht. Unsere Seele braucht Gelegenheit, dem Körper hinterherzukommen.

Meine eigenen Möglichkeiten

Als der Begriff „Adagio“ als musikalische Form geprägt wurde, gab es keine absoluten Tempoangaben. Das lag nicht nur daran, dass es damals noch kein Metronom gab. Sondern auch an der Überzeugung, dass das Zeitmaß immer von der Individualität und dem Können des Ausführenden wie von dem Instrument, der Besetzung und den akustischen Verhältnissen abhängig ist. Auch das möchte ich wie ein Gleichnis verstehen: Meine eigenen Möglichkeiten sowie die „räumlichen Gegebenheiten“, also meine Umwelt, wollen berücksichtigt sein, wenn es um mein Lebenstempo geht. Aber eins ist mir klar: Es geht nicht ohne Adagio.

Hans-Joachim Eißler ist Musikreferent im Evangelischen Jugendwerk in Württemberg, Kirchenmusiker, Chorleiter, Arrangeur.

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