“Volk und Land” – das sind zwei Begriffe, bei denen heute alle Alarmglocken schrillen. Zurecht: “Blut und Boden” spricht von einer Ideologie, an der wir nie wieder unsere Politik und unser Denken ausrichten wollen. Wie zentral geographische Bereiche für alle möglichen Entwicklungen, Konflikte und ideologischen Entgleisungen sind, merken manche ja bereits in der Beziehung zum Nachbarn.

Der Volksbegriff soll uns an dieser Stelle nicht weiter interessieren, wird aber ganz am Ende dieses Artikels nochmals eine Rolle spielen. Was ich aber versuchen möchte ist, den Begriff “Land” biblisch-theologisch einzuordnen.

Differenziertes Bild

J.J. Rousseau (1755) meinte, dass das Konzept des abgesteckten Grundstücks der soziale Ursündenfall gewesen sei: Es wären viele Morde nicht geschehen, viele Kriege nicht gekämpft worden. Über die Jahrhunderte haben viele Christen versucht, die Bedeutung der materiellen Welt samt ihren abgesteckten Bereichen komplett zu überwinden. Der “Himmel” und nicht das “Land der Verheißung” wurde zum Ziel aller Träume und er wurde sehr häufig als materieloser Geistraum gedacht. Aber in der Bibel finden wir gerade keine Dualismen, die die Welt in einen guten geistigen und einen zu überwindenden materiellen Bereich aufteilen. Der von Gott erhoffte Segen hat immer eine körperliche Dimension und dazu gehört auch das Land. Allerdings zeigt sich ein sehr differenziertes Bild mit eher verschiedenen Perspektiven auf die Bedeutung des Landes. Einige Aspekte dazu will ich nun nennen und in meiner Auswahl kanonisch vorgehen.

Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde (1Mo 1,1). In der Schöpfungserzählung ist “Land” gegenüber Luft und Wasser der primäre Lebensraum des Menschen. Das wird darin deutlich, dass der Mensch als vom Erdboden genommen dargestellt wird, aber darüber hinaus auch darin, dass er vom Ertrag des Landes abhängig ist für sein Überleben. Man könnte sagen, dass wir Menschen aufs Land gehören, zum Land gehören und dort und von dort von Gott als Teil seiner guten Schöpfung versorgt und gesegnet werden.

Gleich in 1. Mose 3 wird das Land problematisiert: Wir Menschen müssen mehr Arbeit reinstecken, als uns das Land als Ertrag wiedergibt. Wir sind auch auf dem Land gefährdet, nicht zuletzt durch andere Menschen. Diese Ambivalenz des Angewiesenseins und Gefährdetseins in Bezug auf das Land macht vieles in unserem Alltag aus.

Für das antike Israel spielte das “Land” eine zentrale Rolle. Völlig unabhängig von nomadischer, halbnomadischer oder sesshafter Kultur braucht es Land. Den Vätern Israels (Abraham, Isaak, Jakob) wurde von Gott Land verheißen (z. B. 1Mo 17,8), sie waren sogar teilweise in diesem ihnen versprochenen Landstrich unterwegs und lebten von diesem Land, aber bis auf einen Stückchen Land zu Begräbniszwecken (1Mo 23) gehörte ihnen nichts davon, sie waren “Fremdlinge” (2Mo 6,4).

Nach dem Exodus

Der Exodus aus Ägypten zielte darauf, dass das zum “Volk” gewordene Israel einen eigenen Landstrich bewohnen sollte, in dem es politische Souveränität ausüben könnte (2Mo 6,8). In der Tora ist alles auf die Landgabe durch Gott an Israel ausgerichtet (5Mo 19,8). Der Gott der Väter wird seine Leute in das Land der Verheißung bringen – mit dem Ziel der “Ruhe” (5Mo 12,9.20), dem Inbegriff der Segenserwartung Israels.

Dieses Land ist der Ort des Volkes, dort sollen und dürfen sie sein. Allerdings stellt sich eine zweite Perspektive hinzu: Es ist Gottes Land und die Israeliten sind dort immer nur Fremde: “Ihr seid auf meinem Besitz nur Gäste oder Fremde, die das Land lediglich bearbeiten dürfen” (3Mo 25,23). Israel “hat” dieses Land nur im Sinne einer Leihgabe. So konnte es die Regel geben, dass verpfändetes Land nach 49 Jahren wieder an die ursprüngliche Familie zurückfiel (3Mo 25,10) bzw. zurückfallen sollte (denn solch radikale Ideen werden gerne von den Mächtigen, d. h. Reichen ignoriert; vgl. Mi 2; Jes 5). Landbesitz kann sehr schnell zu dem werden, was Rousseau als Sündenfall einer Gesellschaft beschrieben hat. Offensichtlich musste Israel immer wieder zurückgerufen werden zu der Einsicht, dass alles, was sie hatten, letztlich von Gott selbst kommt, ihm gehört und damit nur relativ in ihrem Verfügungsbereich liegt. Es sollte so sein, dass der Segen Gottes sich für alle Teile des Volkes positiv auswirkt und nicht nur für die, denen es zufällig so gut ging, dass sie immer weiteren Reichtum aufhäuften. Es gab Regelungen, die Israel zu einer großen Solidarität verpflichteten sogar überethnisch: “Ihr werdet so viel besitzen, dass ihr Menschen aus vielen Völkern etwas leihen könnt und selbst nichts borgen müsst” (5Mo 15,6). Sollten diese Regeln allerdings missachtet werden, drohte Exil, also der Verlust des Landes und damit des Segensraumes (3Mo 18,28; 5Mo 28,63). Es war und blieb eben Gottes Land und so mussten dessen Einwohner sich an dessen Spielregeln halten. Rituale symbolisierten dies: Die ersten Ernteerträge wurden ans Heiligtum abgegeben (2Mo 23,19; 3Mo 19,23-25; 5Mo 26,1-11), der Zehnte ebenfalls (2Mo 22,28f.; 4Mo 18,21; 5Mo 14,22-29) und Felder sollten nicht komplett abgeerntet werden (3Mo 19,9f.).

Die Berichte zur Landgabe, wie sie in Josua bis Richter beschrieben wird, sind ähnlich differenziert in Bezug auf “das Land” wie die Tora. Endlich kein Manna mehr, sondern eigener Ertrag! Aber “von Milch und Honig überfließen” war eher eine Hoffnung als Realität, wie in den beiden Büchern zur Sesshaftwerdung Israels in Kanaan deutlich wird. Liest man sowohl Josua als auch Richter gemeinsam, so wird die Ambivalenz von Ruhe und Bedrohung (von außen und innen) überaus deutlich. Immer bleibt die Landverheißung an die Väter auch Verheißung und wird nicht komplett eingelöst.

Mit dem Bau des Tempels unter Salomon bekommt das Land einen Fokus: In Jerusalem wird der Ort der Gottesgegenwart material erlebbar. Der Tempelberg oder Zion wird zum Kern des Landes, welcher dann in der prophetischen Literatur und den Psalmen zum Zentralort der Gottesherrschaft über die gesamte Welt wird (Ps 110,2; Jes 62). Hier zeigt sich das Bewusstsein, dass der Gott Israels nicht territorial begrenzt ist, sondern als Schöpfer Anspruch auf die gesamte Welt erhebt. Zion kann zur Metapher für die globale Herrschaft Gottes werden: Alle Völker werden sich zu diesem Berg hinwenden und dort Heil suchen (Jes 60).

Die Erfahrung des Exils, d. h. der Verlust des Landes, wie es in 3. Mose und 5. Mose bereits am Horizont stand, war für Israel ein großer Einschnitt und bedurfte einer theologisch sehr tiefgreifenden Bewältigung. Hesekiel spielt hierbei eine zentrale Rolle. Das Exil wird in diversen Visionen so gedeutet, dass die Herrlichkeit Gottes den Jerusalemer Tempel gen Osten, also in Richtung Babylon, verlässt und somit Israel ins Exil begleitet (Hes 10). Unser Gott ist nicht territorial gebunden, so die Botschaft. Mit diesem globalen Anspruch Gottes, der schon in der Urgeschichte Kernthema ist, geht die Globalisierung des “Heiligen Landes”, also des Landes dieses Gottes, einher.
Paulus formuliert es dann so, dass Gott Abraham die ganze Welt zum Eigentum geben würde (Röm 4,13). Das spätere Judentum hat diese Überzeugung (4Esr 6; 2Bar 14) in ihrem torazentrierten Synagogengottesdienst materialisiert: “Wenn zwei zusammensitzen und die Worte zwischen ihnen Torah sind, dann ist die Herrlichkeit in ihrer Mitte.“ (mAboth 3,2). Land und politische Souveränität waren zwar nach wie vor ein Ideal, auf das man im Frühjudentum hoffte, aber die Gottesbegegnung war davon nicht abhängig.

Neues Testament

Bei Jesus und Paulus wird diese Idee der Globalisierung des “Heiligen Landes” aufgenommen und christlich weitergedacht. In Jesu Rede vom Niederreißen des Tempels und dem dreitägigen Wiederaufbau (Mt 26,61) deutet er seine Auferstehungswirklichkeit als den neuen Tempel, um den sich seine Nachfolger sammeln und in deren Mitte er gegenwärtig sein wird. Johannes 1,14 redet vom Zeltaufschlagen Gottes “unter uns”, in dem wir “seine Herrlichkeit” erkennen können. Dort, wo Jesus ist, ist also das Land der Verheißung, der Ort, der sich dadurch definiert, dass Gott dort wohnt.

Paulus redet von den Christen in Korinth als Tempel und damit als Zentrum der Gottesgegenwart (2Kor 6,16-18). Dort, wo Gott regiert, ist sein Land. Das ist für Paulus tatsächlich die gesamte Welt. Es ist zwar noch nicht überall sichtbar, aber es wird so sein (1Kor 15,20-28). Es könnte sein, dass die Ereignisse an Pfingsten (Apg 2) für diese Globalisierung und Internationalisierung des Raumes der Gottesherrschaft den Anlasspunkt gegeben haben: Das geistbegabte Volk definiert nachösterlich das Land. Es geht nicht um einen schmalen Streifen am östlichen Rand des Mittelmeers, sondern um das Land in seiner funktionalen Rolle als Ort, an dem der Segen Gottes durch seine Gegenwart für die Menschen erfahrbar wird. So, wie das antike Israel im Segensraum Gottes war bzw. sich danach sehnte, wie es durch sein solidarisches Verhalten versucht hat, diesen Ort als Segensraum für alle zu gestalten, so gilt es auch für jede christliche Gemeinschaft, dass sie an ihrem geographischen Ort Segensräume gestaltet – ganz handfest, ganz materiell, aber natürlich auch ideell und emotional.

Prof. Dr. Stefan Kürle, Berlin, ist Professor für Biblische Theologie an der Ev. Hochschule Tabor
(Lehrort: Theologisches Studienzentrum Berlin).

Bibliographie:
Rousseau, J.-J. (2000). Abhandlung von dem Ursprung der Ungleichheit unter den
Menschen (U. Goldenbaum, Hrsg.; M. Mendelsohn, Übers.). H. Böhlhaus Nachfolger.
Wright, C. J. H. (2004). Old Testament Ethics for the People of God. InterVarsity Press.
Wright, N. T. (1992). The New Testament and the People of God. SPCK.
Wright, N. T. (2013). Paul and the Faithfulness of God. Fortress.
von Rad, G. (1943). Verheißenes Land und Jahwes Land im Hexateuch. Zeitschrift des deutschen Palästina-Vereins, 191–204.
Yeo, K.-K., Green, G. L., & Brueggemann, W. (Hrsg.). (2021). Theologies of Land: Contested
Land, Spatial Justice, and Identity. Cascade Books.

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