Ein Blick über die Jahreslosung hinaus

Ich glaube nur, was ich sehe! Johannes Rebmann, der Gerlinger Missionar, machte am 11. Mai 1848 eine sensationelle Entdeckung: Den Kilimandscharo. Ein „Berg voller Schnee“ südlich des Äquators in Tansania. Die Leute zu Hause glaubten ihm nicht. Dem Hobbygeologen wurde entgegengehalten, dass die Lehrbücher dies für unmöglich hielten. „Nur was wir sehen, glauben wir.“ – und das aus dem Munde von frommen Geschwistern! Ungesehenes den anderen glaubhaft zu machen, ist kein leichtes Unterfangen.

Ich glaube, was ich nicht sehe Tatsächlich ist der Glaube an Gott nicht an das „Nicht sehen“ gebunden! Entgegen dem Wort, dass der Glaube ein Nichtzweifeln sei an dem, was man nicht sieht (Hebr 11,1), kommt das Schauen auffallend oft in der Bibel vor. Die Weihnachtsberichte sind voller Aufforderungen – etwa: „Siehe, ich verkündige dir große Freude …“

Wir sollen hinschauen, damit wir besser hören können (Luther: Wer Gott sehen möchte, muss seine Augen in die Ohren stopfen.). Auch die Auferstehung Jesu, wird von Augenzeugen bezeugt – und Thomas darf mit Händen tasten, was seine Augen sehen. Gott ist unsagbar großzügig, wenn es um die Sinneswahrnehmung geht. Wir müssen seine Gottheit nicht mit der Vernunft fassen können. Paulus folgert daraus, dass wir Gottes unsichtbares Wesen seit der Schöpfung in der Welt erkennen können. Allerdings komme es darauf an, ob man das wolle (Röm 1,20).

Ich werde gesehen, also glaube ich

Die Hagar-Geschichte (1Mo 16,13) ist eine Begegnungsgeschichte zwischen Hagar und Gott. Gott macht sich sichtbar. Damit gehört Hagar zu den wenigen Gestalten in der Bibel, die das von sich behaupten können. Dass Gott sie ansieht, ist für sie Grund genug zur Umkehr. „Du bist ein Gott, der mich ansieht“, sagt sie. Man könnte erweitert übersetzen: „Der mich erkennt und sich zu erkennen gibt.“ Sarah und Abraham geben beim Umgang mit ihrem unerfüllten Kinderwunsch kein gutes Bild ab. Hagar aber ist die eigentlich Leidtragende, und kann sich wohl kaum etwas vorwerfen. Als Sklavin hat sie getan, was Sarah nach damaligem Recht einfordern durfte. Das Sklavenkind, gezeugt durch Abraham, würde auf dem Schoß
der Sarah das Licht der Welt erblicken. Nicht aber Sara, sondern Hagar erlebte, was Jesus in der sechsten
Seligpreisung ausspricht: Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen (Mt 5,8). Hagar findet neu Vertrauen, kehrt um und glaubt an das Wort, das sie durch den Engel zugesagt bekommt.

Ich brauche es, dass ich gesehen werde

Es ist ein Grundbedürfnis, dass wir Menschen gesehen – also wahrgenommen – werden. Nur so können wir (über-)leben. Wir leben alle, mehr oder weniger, von Beziehungen, von Feedback und – wenn man so will – von analogen und digitalen Likes. Anhaltende Isolation und Einsamkeit ist einer der größten Schmerzpunkte des Menschen. Dieses Bedürfnis lässt sich im Alltag auch in kleiner Skizze nachzeichnen. Meine Frau sagt mir manchmal: „Heute hast du mich richtig angesehen, und nicht durch mich hindurchgeschaut.“ Ungeteilte Aufmerksamkeit braucht Zeit und einen freien Kopf, sonst sind wir mit offenen Augen blind. Wenn mich einer fragt: „Wie schaut‘s aus?“, dann hört sich das für mich oft besser an, wie ein beiläufiges „Wie geht’s?“ Es ist ein großes Glück, wenn ein anderer Mensch sich die Zeit nimmt, um gemeinsam auf meine Anliegen und mein Leben zu schauen.

Du schaust mich an, also bin ich

Wenn Gott uns anschaut, kommt das Leben (zurück). Jesus „sieht“ den Kranken am Teich Betesda liegen, und heilt ihn (Joh 5). Es ist kein Zufall, dass viele Kliniken sich „Betesda“ nennen. Menschen sollen dort mit den Augen Jesu gesehen werden. Der barmherzige Samariter „sieht“ den Geschundenen (Lk 10,25ff.), und unterscheidet sich darin vom Priester und Levit – die beide den Halbtoten ebenfalls „gesehen“ hatten.

Wenn wir von Gott angeschaut werden, wie Hagar in der Wüste, dann folgt daraus eine Gottesbegegnung. Gott beobachtet nicht, er fängt uns mit seinem Blick ein. Sein Blick trägt keinerlei Voyeurismus, sondern seine Liebe verändert unser Leben.

Du durchschaust, wo ich nichts sehe

Das Hinsehen kann man lernen. Die Not und das oft verdeckte Elend, der Riss zwischen Personen und die Einsamkeit von verwitweten und geschiedenen Menschen ist solch ein Beispiel. Oftmals sehen wir die Nöte allerdings nicht. Sie finden verdeckt und versteckt statt. Psalm 139 erinnert uns daran, dass es nicht allein an unserer Bereitschaft liegt, gesehen zu werden. Wir lesen: „Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?“

Wir sollen hinschauen, damit wir besser hören können.

Matthias Hanßmann

Gott sieht uns. Das gilt auch für die finstersten Orte. Unser Auge braucht Licht, um in der Finsternis sehen
zu können. Bei Gott ist es anders. Die Finsternis ist bei Gott nicht finster. Die Nacht leuchtet wie der Tag. Bei Gott gibt es keinen blinden Fleck. Denn er ist das Licht – wo er ist, ist Epiphanias. Wie gut, dass er alles sieht. Wir können uns sicher sein: Keine Krankheit, keine Trauer, keine Schuld und keine Sünde bleiben ungesehen.

Dein Blick ruht auf mir, also werde ich ruhig Besondere Momente sind, wenn Augen sich begegnen. Besonders eindrücklich ist dies zwischen einer stillenden Mutter und ihrem Kind. Die Augen begegnen sich – fixieren sich regelrecht. Für mich steht dieses Bild Pate, wenn wir uns den aaronitischen Segen zusprechen. Das Angesicht Gottes leuchtet über uns, und er „erhebt es auf uns“ (im Sinne von „neigt sein Angesicht über uns). Im Segen trifft sein Gesicht, treffen seine Augen auf unser Leben. Wenn Blicke reden können, dann hier: „Und gebe dir seinen Frieden.“

Wir leben in einer Zeit, in der wir uns vorstellen können, wie es ist, wenn man überall sichtbar gemacht werden kann. Hochkomplexe Satellitentechniken können Menschen überall auf der Welt aufspüren, und Drohnen sind bei der Suche nach Vermissten nicht mehr wegzudenken. Die „Big Brother–Drohszenarien“ aus Orwells Roman „1984“ sind weitgehend verraucht. Vielmehr sind wir in einer Generation angekommen, die sich gekonnt ins Scheinwerferlicht setzt und sich auf allen Kanälen inszenieren kann. Auch wir frommen Menschen sind darin gut geworden. Der Blick Gottes ist ein wohltuender Gegenentwurf. Gottes Blick legt offen und ist an Ehrlichkeit nicht zu überbieten. Er lässt sich nicht blenden. Denn „der Mensch sieht was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an“ (1Sam 16,7).

Pfarrer Matthias Hanßmann ist Vorsitzender der Apis

Diesen Beitrag teilen