Texterklärung

Die zweijährige Gefangenschaft des Paulus in Rom wird verschärft, der relativ freizügige Hausarrest zurückgenommen. Der öffentliche Druck auf die christliche Gemeinde steigt. Für Paulus wird ein positives Prozessende immer unwahrscheinlicher. Vielmehr erwartet er Todesurteil und baldigen Tod (2Tim 4,6). Das macht den zweiten Timotheusbrief zu einer Art Abschiedsbrief und verleiht in unserem Abschnitt den Worten und Mahnungen an Timotheus den Charakter eines Testamentes, eines geistlichen Vermächtnisses. Wertvoller Impuls zur Selbstbesinnung ist daher „Bleibe bei dem, was dir vertraut ist“. Was ist uns in unserem Glauben und in unserer Kultur von Kindheit an so vertraut und wertvoll, dass es als anvertrautes Gut das Gewicht eines weiter zu gebenden Erbes hat? Paulus will dem bewährten Missionshelfer und Gefährten Timotheus nun – quasi zum Abschied – eine geistliche Basis-Vergewisserung zukommen lassen.

Du aber bleibe (V. 14)

Timotheus sind die Worte und Geschichten der Bibel und christliche Hausfrömmigkeit von Kindheit an vertraut. Die Erziehung durch seine Mutter, die Predigten des Paulus und seine Erfahrungen auf den Evangelisationsreisen haben eine Prägung, ein Erbe aufgebaut, das er nicht wie einen Schatz im Acker (Mt 13,44) oder wie einen anvertrauten Zentner (Mt 25,18) verbergen soll. „Bleiben“ mahnt uns, unser Glaubenserbe zu kennen, mit ihm zu leben, damit zu „wuchern“, es zu mehren durch unsern Umgang im Lebensalltag – z. B. die als Kind auswendig gelernten Lieder und Psalmen und Bibelworte auch im Alter zu singen und zu beten. Und dieses Vertraute und Anvertraute auch in Familienfeiern und Besuchen ungeniert „einzuspeisen“.

Du hast gewonnen (Vers 15+16)

Je älter wir werden, desto bedeutender mag uns die Frage nach unserer Seligkeit werden (V. 15). Wenn biblisches Wort Lebenswort ist, dann ist es Hilfe zur aktiven Lebensgestaltung und erbringt Lebensweisheit. Die letzte und höchste Lebensweisheit ist das Wissen um das letztendliche Heimkommen zu Jesus Christus nach einem der Länge nach von ihm bestimmten Leben und jenseits eines allmächtig scheinenden und doch ohnmächtigen Todes. Also kann mich meine tägliche Bibellese – allein oder in
Gemeinschaft – bereichern und mir helfen:

  • In den Scheinwahrheiten meiner Lebenswelt, die Wahrheit des Christus als Heiland und Erlöser zu erfassen (Lehre).
  • Irrtümer und Fehlentwicklungen in Kirche und Gesellschaft aufzudecken und mein eigenes Verhalten zu überprüfen und zu korrigieren; nüchtern zu bleiben und mich nicht von jedem Hype anstecken zu lassen (Zurechtweisung und Besserung).
  • Vorurteile und neue Gerechtigkeitsforderungen, wie Klimagerechtigkeit oder Lohngerechtigkeit oder
    Selbstbestimmungsrechte u. ä., vor dem Wort Gottes zu prüfen (Erziehung in der Gerechtigkeit).

Das ist Gewinn aus dem Wort Gottes, der eben nicht aus Allerweltsweisheiten gebildet wird, sondern aus
Gottes Geist durch die biblischen Zeugen uns gegeben ist (1Petr 1,19-21).

Frei und geschickt (V. 17)

Das verheißene Ziel eines Lebens mit der aufgeschlagenen Bibel ist zuerst, dass ich fest und gewiss weiß: Ich bin ein geliebtes Kind Gottes. Ich bin befreit zu einem Leben mit Himmelszukunft. Diese Gewissheit soll Timotheus zu einem „geschickten“ Gemeindeleiter und mich zu einem geschickten Zeugen in meiner Lebenswelt und zu einem geschickten Erblasser für meine Kinder und Enkel machen.

Summa

Am Ende seines Lebens beschäftigt sich der Apostel nicht mit sich selbst und mit der (modernen) Frage,
wann und wie und ob er selbstbestimmt sterben wird. Er weiß sich in Gottes Hand und wertet sein Leben als Zeuge des Evangeliums von Jesus Christus als einen Gewinn (2Kor 5). Diesen Gewinn will er als Erbe an den Schüler und Gefährten Timotheus weitergeben. Aus diesem Blickwinkel betrachtet darf es für unser eigenes Altwerden zu einer besonderen Lebensaufgabe werden, unser eigenes Glaubenswachstum und Glaubenserbe als ein Vermächtnis zu erkennen, das wir unseren Kindern anvertrauen und weitergeben wollen.

Fragen zum Gespräch
  • Wer hat sein Testament schon gemacht? Und wie ist darin die Gewichtung von materiellen Bestimmungen und geistlich-familiären Anliegen?
  • Was schreiben wir in unsere Gratulationskarten und Jubiläumsansprachen im Umfeld von Familie und Freundeskreis?
  • Selbstbestimmt leben und sterben (Röm 14,7ff.) – wie denke ich als Christ über das Thema Sterbehilfe?
  • Hausfrömmigkeit: Was praktizieren wir bei uns selbst, auch wenn wir alleinlebend sind? Was können wir in der familiären Begegnung „einspeisen“?

Johannes Bräuchle, Pfarrer, Beauftragter der EKD für die Circus- und Schaustellerseelsorge in Süddeutschland

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