Texterklärung

Micha ist einer der sogenannten „kleinen“ Propheten im Alten Testament. Gerade einmal sieben Kapitel umfasst dieses Buch. Doch Micha bringt eine Botschaft, die es in sich hat. Es geht um schonungslose Gerichtsworte, um Sozialkritik, um die Frage nach Heil und die Ankündigung eines Retters, der aus Bethlehem kommen soll. Der Prophet Micha stammt aus dem ländlichen Ort Moreschet (1,1), südlich von Jerusalem, und war ein Zeitgenosse der Propheten Jesaja, Amos und Hosea im Jahrhundert v. Chr.

Hört!

„Höret, alle Völker!“ (1,2): Gleich zu Beginn wird klar, Micha hat etwas zu sagen. Alle Völker sollen seine
Botschaft hören. Doch in erster Linie richten sich seine Worte gegen das Nordreich Israel und das Südreich Juda, um ihre Schuld anzuprangern. Der Aufruf „Hört!“ untergliedert das Michabuch in drei Teile (vgl. 3,1; 6,1). Dreimal ruft der Prophet auf zu hören, ganz so, als wolle er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer unter keinen Umständen verlieren. Dazu ist seine Botschaft zu ernst: Ein Volk verleugnet seinen Gott und betet andere Götter an. Die ersten Zeilen lesen sich wie eine Gerichtsszene. Gott tritt als Zeuge auf (1,2). Die Anklage: In den Hauptstädten des Nordreiches Israel (Samaria) und des Südreiches Juda (Jerusalem) werden auf den Opferhöhen Götzen verehrt (1,7).

Ein herabkommender Gott

Micha schaut in einer Vision, dass Gott von seiner Stätte herabfährt und auf die Höhen der Erde tritt (1,3). Gott macht sich auf den Weg zu den Menschen. Warum aber gerade auf die Höhen? Weil gerade auf den Hügeln und Bergen die Opfer für fremde Götter dargebracht werden. Das Herabkommen Gottes verbinden wir oft mit der Menschwerdung Jesu im Neuen Testament. Doch hier kommt Gott ganz anders. Der Text nutzt Metaphern, um die Macht Gottes darzustellen: Berge schmelzen, Täler spalten sich, wie Wachs, das vor dem Feuer schmilzt (1,4). Ein heiliger Gott, der sich auf die Menschen zubewegt.

Schuld kann nur beklagt werden

Das erste Kapitel im Michabuch startet mit einer schonungslosen Anklage. Israel und Juda haben sich von
ihrem Gott abgewandt und sich in Sünde verstrickt. Was folgt ist ein Gerichtswort. Samaria soll zum Steinhaufen werden (1,6). 722 v. Chr. ist diese Stadt durch die Assyrer eingenommen worden. 587 v. Chr. auch das Südreich Juda durch die Babylonier. Micha beschreibt in einem sogenannten Städtegedicht (1,10-16) von elf weiteren Orten, denen ihr je eigenes Schicksal ergehen wird. Diese elf Städte sind bewusst ausgesucht, im Hebräischen sind damit mehrere Wortspiele verbunden. Es werden die Namen der Städte benutzt, um konkrete Erscheinungen des Gerichts zu beschreiben.

Und Micha selbst? Micha beginnt, über die Sünde der Städte zu klagen (1,8). Er ruft nicht nach Rettung, nicht nach Vergebung, nicht nach Umkehr. Er beginnt einfach zu klagen und zu heulen. Denn Samarias Wunde ist für ihn unheilbar (1,9). Schuld kann nur beklagt und beweint werden. Die Einsicht, dass man sich verstrickt hat und daraus nicht mehr herauskommt. Die Einsicht, dass hier etwas schiefläuft. Die Einsicht, dass die Wunde durch uns nicht mehr heilen wird.

Wie gehen wir in unserer heutigen Zeit damit um, wenn Menschen sich von Gott abwenden? Die einen heben nur allzu schnell den Zeigefinger. Den anderen ist es gänzlich egal. Die dritten fallen in Aktionismus. Die vierten in Resignation. Micha beklagt und trauert. Er spürt den Schmerz. So wie Jesus, als er über Jerusalem weint (Lk 19,41). Manchmal tut es gut zu weinen, ohne eben gleich die Lösung parat zu haben. Es wirft uns zurück in Gottes Hände. Eine Lösung ist in diesem Kapitel nicht in Sicht. Ein Happy End? Fehlanzeige. Eine Hoffnung? Nicht auszumachen. Das müssen wir in diesem Kapitel aushalten. Trostlos endet es mit Bildern von abgeschorenen Haaren und Geiern (1,16). Und so steht man am Ende mit leeren Händen da. Der Schrei nach Rettung wird nun umso größer. Wer kann uns retten? Wer kann diese unheilbare Wunde heilen? Wer kann unser Weinen trösten? Wer kann von Schuld befreien?

Fragen zum Gespräch
  • Wie reagieren wir, wenn wir Schuld und Sünde sehen? Wie wirkt Michas Verhalten auf mich? Sollten wir Schuld und Sünde „betrauern“?
  • Manchmal denken wir schnell vom „Happy End“ her. Ist das gut? Was hat das für positive Seiten?
    Was wird dadurch manchmal überdeckt?

Clemens Hanßmann, Pfarrer

Die Viertel-Schtond zu Micha 1,1-16 mit Cornelius Haefele und Matthias Hanßmann.
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