Texterklärung

Nicht ein einziges Mal meldet sich Gott im Buch Rut zu Wort. Er tritt nicht in mithandelnden Personen der
Erzählung auf, er spricht nicht in einer Rede zu den Personen. Nie erfahren wir, wie Gott denkt, aber: Er lenkt. Er zieht Fäden und spinnt sie zu einem Bild, das uns erst am Ende des Buches vollkommen vor Augen
steht. Für uns sind schwere Erfahrungen manchmal wirre Fäden, deren Sinn wir nicht erkennen. Aber Gott sieht die andere Seite dieses Bildes. Er waltet in unserem alltäglichen Leben, in unseren Entscheidungen und durch alle Nöte hindurch mit einer verborgenen Kraft, die uns mit allen Völkern dieser Erde in seinen Heilsweg einbezieht.

Die blanke Katastrophe (Vers 1-5)

Ausgangspunkt ist wie so oft in der Bibel eine große Hungersnot (z. B. Abraham in 1Mose 12; 26 usw.). Und auch Bethlehem, das im Neuen Testament wegen der Geburt Jesu eine herausragende Rolle spielt, ist davon betroffen. Bethlehem heißt übersetzt „Brothausen“, aber in Brothausen gibt es kein Brot. Die Not zwingt zur Flucht ins Ausland, nach Moab.

Da kommt zur Hungerkatastrophe auch noch eine Familienkatastrophe: Noomi stirbt der Mann weg. Aber
sie hat noch ihre beiden Söhne an ihrer Seite. Diese nehmen sich moabitische Frauen (Orpa und Rut), aber nach etwa zehn Jahren sterben auch die beiden Söhne. Größer könnte die Katastrophe nicht sein, denn die Männer waren sozusagen die Sozialversicherung der Frauen, die nun völlig ungesichert auf sich allein gestellt waren – und Noomi zusätzlich noch als Frau in der Fremde! „Was denn noch?“, so könnte sie sich gesagt haben. So sagen es auch heutzutage noch Menschen. Und wo ist Gott?

Eine Wende aus Freiheit (V. 6-18)

Die Situation in Bethlehem ändert sich zum Guten. Es gibt wieder Brot und Noomi entschließt sich zur Rückkehr. Aber sie bietet alles in ihrer Macht Stehende auf, um die beiden Schwiegertöchter vom Mitgehen nach Israel abzuhalten (v. 8.11.12: dreimal „kehrt um!“). Warum tut sie das? „Ist doch toll, wenn die mitwollen!“, hätte sie sagen können. Aber sie will die Schwiegertöchter nicht an sich binden! Noomi sucht nicht das Ihre! Auch in ihrer schwierigen Situation nicht. Man kann ja Menschen so subtil für sich einnehmen, dass sie nicht aus Freiheit handeln, aber darauf liegt kein Segen. Und so nimmt Orpa die ihr eingeräumte Freiheit in Anspruch, um zu ihrer moabitischen Familie zurückzugehen – aus Freiheit. Rut verbindet ihr Leben feierlich mit dem Leben ihrer Schwiegermutter – auch aus Freiheit. Es sind zwei gegensätzliche Entscheidungen bei ein und derselben Frage. Und beide Entscheidungen sind gut. Es gibt in der vorliegenden Erzählung keine Wertung der Entschlüsse: Ruts Weg ist nicht besser als der von Orpa. Nein – beide sind richtig, so unterschiedlich sie sind. Sie fallen aus ehrlich gemeinter Freiheit, sich so entscheiden zu können. Noomi bringt bei aller Dramatik der Not eine bewundernswert hohe Kraft auf
zu dieser Haltung der Freiheit – und Gott ist dabei!

Erfahrungen hinterlassen immer Spuren (V. 28-30)

Noomi hat Rut an ihrer Seite und ist nicht mehr allein. Was für ein Segen in all der Schwere! Aber sie ist fürs Leben gezeichnet. Ihr Lebensunterhalt ist immer noch ungeklärt (physischer Aspekt), auch die Hoffnung ist von ihr gewichen (V. 21 ist nicht nur materiell zu verstehen, sondern auch der psychische Aspekt der Not) und sie fühlt sich von Gott verlassen (Aspekt des Glaubens in V. 20: Der Allmächtige! hat mir viel Bitteres angetan). Dennoch: Gott spinnt leise seine Fäden. Kein Wort von ihm – und doch ist er da und wirkt. Der weitere Verlauf des Buches wird es zeigen. Und so wird Rut es sogar bis in den Stammbaum Jesu schaffen, wo sie aus der Sicht Israels als moabitische Ausländerin eine unter den vier nichtjüdischen Frauen ist, die die Heilsgeschichte Jesu tragen (Mt 1,3.5.6: Tamar, Rahab, Rut und Bathseba).

Fragen zum Gespräch
  • Was hat uns in Zeiten der Anfechtung geholfen (physisch, psychisch und vom Glauben her)?
  • Was können wir von den beiden Frauen Noomi und Rut und ihren Haltungen lernen?
  • „Ich gehe meinen Weg, vertrauend darauf, dass er mich nicht an ein Ende, sondern an das Ziel führt. Ich gehe meinen Weg, vertrauend darauf, dass, wenn ich gefragt werde, wohin ich gehe, ich antworten kann: Immer nach Hause“ (Meinhold Krauss). Wie kann uns dieses Zitat im Sinne des Rut-Buches trösten?
  • Fallen uns Erfahrungen wie bei Noomi und Rut ein, in denen die Freiheit eine wichtige Rolle spielte?

Siegfried Jahn, Dekan i.R.

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