Texterklärung
Der Kontrast könnte nicht größer sein. Drei Kapitel lang sagt der Prophet Micha aus Moreschet (8. Jh. v. Chr.) das Gericht an. Die sozialen Missstände im Südreich haben für Micha eine erschütternde Konsequenz: Jerusalem wird zerstört werden. Auf dem heiligen Tempelberg wird bald nur noch Wald wachsen (Mi 3,12). Kapitel 4 macht eine Kehrtwende mit einer Heils-Vision für die Zeit „in den letzten Tagen“ (V. 1). Der Zion wird zu einem Zeichen für Gottes Gnade mit Israel, zum internationalen Dreh- und Angelpunkt von Gottes Frieden (Völkerwallfahrt, V. 1-5) und zu einer geistlichen Trutzburg der Hoffnung.
Ein heiliger Ort
Es geht also um einen Berg. Nicht um irgendeinen Berg, sondern einen besonderen. Menschen verbinden etwas mit den Bergen – das war schon immer so. Auf Bergen gibt es Wallfahrtskapellen. Benediktinerklöster wurden häufig auf Berge gebaut. In Afrika habe ich viele Kirchen besucht, die auf Hügeln oder Bergen gebaut waren. Wenn ich die Glaubensgeschwister in Kenia danach fragte, antworteten sie sinngemäß: „Dort sind wir Gott ein Stückchen näher.“ Der Weg nach oben auf den Berg hilft auch der Seele, sich auszurichten auf Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde.
Auch die Hebräische Bibel kennt heilige Berge: den Sinai (Horeb) und den Zion. Es ist faszinierend, einmal die große Linie zum Zion im Alten Testament nachzuvollziehen (die sog. Zionstheologie, z. B. in Jes 6,1-5; Ps 46-48; Hes 40-48 bis hin zu Offb 14,1). Der Zion ist der Ort des Tempels und wird damit zum Zentrum der Welt. Wo der lebendige Gott wohnt, berühren sich Himmel und Erde. Damit gehen Schutz und Hilfe von ihm aus. Vermutlich glaubte man deswegen auch daran, dass Zion und Jerusalem uneinnehmbar s Maik-Andres Schwarz, Vikar, eien (2Kön 18-19).
Eine falsche Sicherheit
Doch hier liegt ein fatales Missverständnis vor. Dass Gott seine Gegenwart verheißen hat, bedeutet nicht, dass man sie sicher in der Hand hat. Wenn sich die nicht jüdischen Völker militärisch gegen den Zion wenden (Völkerkampf, V. 11-13), ist das Teil des Gerichts Gottes. Unmissverständlich prophezeit Micha sogar das Exil („nach Babel kommen“, V. 10).
Wo lag das Problem? Micha wendet sich gegen eine falsche Sicherheit der Jerusalemer Elite. Sie haben sich nicht ausrichten, sondern ablenken lassen. Denn das Offensichtliche haben sie vergessen: Der Gott Israels ist kein Gott der Mächtigen, er will gerade die „Verstoßenen zum mächtigen Volk machen“ (V. 6). Das ist eine scharfe Sozialkritik gegen „Jerusalems Häupter“ (Mi 3,11). Kernproblem der gesellschaftlichen Entwicklung war wie bei Jesaja, dass Bauern um Haus und Hof gebracht wurden und durch Korruption in das Schuldenwesen getrieben wurden (Mi 2,1-11).
Eine geistliche Vision
Dem setzt Micha eine prophetische Vision entgegen. Der Gottesberg wird zum neuen, wahren Haupt Jerusalems. Er wird zum hoch erhabenen, höchsten Berg (zweimal „Berg“ in V. 1). Es ist eine geistliche Vision, die augenscheinlich nicht zum Zion passt. Rein topographisch ist der nämlich eher ein mittelgroßer Hügel. Doch Micha sagt: Genau darum geht es! Menschliche, politische und sogar militärische Größe schwinden angesichts der starken Bilder des Friedens. Speere werden zu Winzermessern geschmiedet, Schwerter zu Pflugscharen. Militärisches wird zu landwirtschaftlichem Gerät – Panzer zu Traktoren, würden wir heute vielleicht sagen. Das menschliche Jerusalem wurde auf Unrecht und Blutvergießen gebaut und durch Machtmissbrauch vereinnahmt (Mi 3,10). Das neue Jerusalem wird ein Ort sein, zu dem
ganze Völker freiwillig pilgern, um von Gott Weisung und Rechtsprechung zu erwarten (V. 2).
Dass diese geistliche Vision Kraft hat, eine Diktatur zu erschüttern, haben wir durch Gottes Gnade 1989 erlebt. Damals, bei Micha, wie auch heute gilt dabei: Die Friedensbewegung Gottes beginnt mit einer immer neuen Rückbesinnung auf Gottes Wort (V. 2).
Gesprächseinstieg
Zum Einstieg kann es hilfreich sein, einen anderen Text zum Zion und zum Tempel zu lesen. Z. B. einen
Zionspsalm vortragen (Ps 46-48), Höreindrücke sammeln und dann mit Mi 3,10-12 kontrastieren.
Fragen zum Gespräch
- Gibt es in meinem Glaubensleben oder in meinem Gemeindekontext auch theologische Überzeugungen, die manchmal in der Gefahr stehen, zu einer falschen Sicherheit zu werden
- Austausch: Welche biblischen oder geistlichen Visionen geben mir Kraft, meinen Glauben in den großen Veränderungen dieser Zeit und im Alltag zu leben?
Maik-Andres Schwarz, Vikar