Warum Streit unter Christen (nicht) sein muss

Im Grundsatz sind wir uns einig: Unter Christen sollte Einheit herrschen. Schließlich glauben wir alle an denselben Herrn. In der Praxis sieht es oft anders aus. Gemeinden und Gemeinschaften trennen sich, weil es unterschiedliche Auffassungen gibt: zur Taufe zum Beispiel oder zur Mission oder zu Ehe und Homosexualität. Eines ist sicher: Niemand wünscht sich diese Auseinandersetzungen. Trotzdem brechen sie immer wieder auf. Es hilft daher nichts zu sagen: „Streit ist schlecht, seid einfach nett zueinander!“
Manchmal muss man streiten: „Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit“ (Prediger 3,8). Doch gerade auf diese Unterscheidung kommt es an.

Streit muss sein

Seit der christliche Glaube in der Welt ist, gibt es Streit um ihn. Denn beim Glauben geht es um Wahrheit, allerdings nicht um mathematische Wahrheit nach der Art: Zwei plus zwei macht vier. Es geht um eine Wahrheit, die die ganze Person umgreift, anders ausgedrückt: Es geht um eine Wahrheit, die zu Herzen geht. Wenn Jesus sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6), dann hängt alles davon ab, wer dieser Jesus ist und ob sein Wort verlässlich ist. Denn mehr als das, was er hier verspricht, kann es nicht geben: einen Weg zu Gott, die Wahrheit über unser Dasein und das ewige Leben.

Wo die Wahrheit öffentlich wird, da treten sofort auch Lügner auf. Im Johannesevangelium nennt Jesus den Teufel einen Lügner und den Vater der Lüge (Joh 8,44). Er kann es nicht ertragen, dass die Menschen zur Wahrheit und zum Leben geführt werden. Darum ist sein Hauptgeschäft, Menschen vom Glauben an Jesus abzubringen.

Im 1. Johannesbrief wird dieser Kampf um die Wahrheit mit klaren Worten ausgesprochen: „Wer ist ein Lügner, wenn nicht der, der leugnet, dass Jesus der Christus ist? Das ist der Antichrist, der den Vater und den Sohn leugnet. Wer den Sohn leugnet, der hat auch den Vater nicht“ (1Joh 2,22–23).

Weil am Sohn alles hängt, muss man sich seiner Wahrheit gewiss sein. Dabei geht es nicht nur darum, wer der Sohn ist, sondern auch, was er von mir will. „Wer sagt: Ich habe ihn erkannt, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht“ (1Joh 2,4). Die Glaubenswahrheit ergreift nicht nur Kopf und Herz, sondern auch unsere Hand. Gerade im Tun, so beschreibt es Johannes in seinem Brief, wird unser Glaube sichtbar. Kein Wunder also, dass Streit besonders dann ausbricht, wenn es um unser Tun, um Fragen des Verhaltens und der Ethik geht. Der Glaube an Jesus, den Christus, ergreift unser ganzes Leben.

Eines ist sicher: Niemand wünscht sich diese Auseinandersetzungen.

Trotzdem brechen sie immer wieder auf.

Matthias Deuschle

Mit scharfen Worten redet Johannes in seinen Briefen von „falschen Propheten“, „Lügnern“, ja sogar von „Kindern des Teufels“. Damit meint er nicht irgendwelche Leute, die mit der Gemeinde nichts zu tun hätten, sondern Menschen, die von der Gemeinde ausgegangen sind. Und daran wird deutlich: Lüge und Verführung sind nicht irgendwo „da draußen“ in der Welt. Am wirkungsvollsten sind sie in der Gemeinde. Darum, so schreibt Johannes: „Glaubt nicht einem jeden Geist, sondern prüft die Geister, ob sie von Gott sind“ (1Joh 4,1).

Allerdings: Johannes schreibt nicht nur über die Wahrheit, er schreibt genauso ausführlich über die Liebe. „Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ (1Joh 4,16) und: „dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe“ (1Joh 4,21).

Wie geht das zusammen? In ein und demselben Brief werden die Verführer und Lügner scharf angegriffen und wird die Liebe als das Höchste und Wichtigste vor Augen gestellt.

Die Antwort ist: Es geht nur so zusammen. Die Liebe ist ohne Wahrheit nicht zu haben, und die Wahrheit ist ohne Liebe nicht zu haben. Wenn Gott selbst die Liebe ist, und wir durch Jesus Anteil an dieser Liebe bekommen, wenn durch ihn unser Herz verwandelt und neu wird, dann kann es diese Liebe nicht ohne die Wahrheit geben, die Jesus verkörpert.

Kein Wunder also, dass Streit besonders dann ausbricht,

wenn es um unser Tun, um Fragen des Verhaltens und der Ethik geht.

Matthias Deuschle

Eine Liebe, die die Wahrheit verdunkelt oder die Wahrheitsfrage ausblendet, gibt es nach dem Neuen Testament nicht. Wir denken ja schnell: Jetzt lassen wir doch Fünf grade sein, es kommt schließlich auf die Liebe an. Und diese Argumentation hat durchaus ihr Recht. Die Welt funktioniert nur, wenn wir auch Menschen lieben, die anderer Meinung sind. Die Welt funktioniert nur, wenn Liebe Gräben überbrückt, für die es keine anderen Brücken gibt.

Johannes aber spricht von einer anderen Liebe. Er spricht nicht von bloßer Freundlichkeit und Zuneigung unter Menschen, die es zweifellos geben muss. Er spricht von der Liebe selbst, von Gott, der die Liebe ist. Er spricht von der Liebe, die nicht nur Gräben überbrückt, sondern Menschenherzen verändert, Versöhnung schenkt und diese Welt erneuern wird. Diese Liebe aber gibt es nicht, ohne dass wir gewiss werden: Das ist die Wahrheit. Gerade weil es um die Liebe geht, muss man um die Wahrheit streiten. Allerdings: Nicht immer geht es um die Liebe.

Streit muss nicht sein

Wem es wirklich um Jesus und um die Liebe Gottes geht, wird sich sehr genau überlegen: Wann hat der Streit seine Zeit und wann nicht? Bei vielen Auseinandersetzungen in unseren Gemeinden und Gemeinschaften geht es nicht um Gottes Liebe, sondern um allzu Menschliches: Konkurrenz unter Verantwortlichen, schlechte Kommunikation, Vorurteile, Verletzungen. Auch das gab es schon immer in der Geschichte der Kirche. Gefährlich wurde es immer dann, wenn solche menschlichen Dinge geistlich überhöht wurden. Wenn man den persönlichen Gegner zum Ketzer stempelt, um ihn loszuwerden. Wenn es nicht um die Wahrheit der Liebe geht, sondern um das eigene Recht und die eigene Anerkennung.

Die Liebe ist ohne Wahrheit nicht zu haben,

und die Wahrheit ist ohne Liebe nicht zu haben.

Matthias Deuschle

Man erkennt diese Art von Streit sehr schnell daran, dass es persönlich wird, dass nicht mehr die Liebe zur Wahrheit, sondern die Verurteilung anderer im Vordergrund steht. Das Neue Testament spricht in diesem Zusammenhang vom Richten. „Richtet nicht vor der Zeit“, schreibt Paulus (1Kor 4,5) und „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“, sagt Jesus (Mt 7,1). Richten ist etwas anderes als: „Prüfet die Geister, ob sie aus Gott sind.“ Beim Richten geht es um die Person, beim Prüfen um den Geist, der aus dieser Person spricht. Die Person müssen wir selbst dann lieben, wenn wir den Geist, der aus einer Person spricht, hassen müssen. Jesus hat die Dämonen ausgetrieben, gerade weil er die Menschen geliebt hat. Es ist unsere Aufgabe, Geister zu prüfen (vgl. 1Kor 12,10), aber es ist allein Gottes Sache, Menschen zu richten.

Bei vielen Auseinandersetzungen in unseren Gemeinden und Gemeinschaften

geht es nicht um Gottes Liebe, sondern um allzu Menschliches.

Matthias Deuschle

Wem es wirklich um die Wahrheit geht, der wird darauf bedacht sein, den Streit um die Wahrheit sehr genau von anderen Streitigkeiten zu unterscheiden. Wem es wirklich um die Wahrheit geht, der wird sich auch nicht auf jeden Streit einlassen, der einem vor die Füße geworfen wird. Wem es wirklich um die Wahrheit geht, der wird die Liebe dabei nicht aus den Augen verlieren. Denn nur die Liebe ist es wert, dass man um sie streitet. Die Liebe Gottes, die in Christus unter uns erschienen ist (1Joh 4,9). Sie allein führt zum Frieden.

Dr. Matthias Deuschle ist Rektor des Albrecht-Bengel-Haus in Tübingen

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