„Krisenmodus“ ist das „Wort des Jahres“ 2023. Es muss nicht lange begründet werden. Wir wissen um die Kriege in der Ukraine, in Israel und Gaza. Um Migration und Inflation, um die noch nicht ganz verdaute Pandemie und die Veränderungen des Klimas. Wir wissen auch, dass all diese Krisen real sind. Und wie auch immer wir manche Einzelfragen beurteilen – wir alle sind zutiefst verunsichert. Wir wissen nicht, was wird. Aus der Welt. Und aus uns.

In der Krise wächst die Angst

Der Soziologe Hartmut Rosa stellt fest: Es gibt eine »elementare und konstitutive Grundangst der Moderne«: Längst treibe uns nicht mehr die Lust, mehr zu erreichen, sondern die Angst, alles zu verlieren: »Es ist nicht die Gier nach mehr, sondern die Angst vor dem Immer weniger «, die unsere Realität bestimmt. Dies zeige sich unter anderem darin, »dass die Mehrzahl der Eltern … nicht mehr von der Hoffnung motiviert wird, dass es die Kinder einmal besser haben mögen als sie selbst, sondern von dem Verlangen, alles zu tun, was sie irgend können, damit es ihnen nicht schlechter geht.« – Angst nimmt die Freiheit, nach vorn zu denken und zu handeln. Angst führt in die typische Kaninchen-vor-der-Schlange-Haltung. Und Angst ruft Scharlatane auf den Plan: die Welt-Erklärer, die Mythen-Erzähler, die Seelenfänger. Im Klima der Angst hat Manipulation Konjunktur. – Wie finden wir aus diesem Krisenmodus in einen Hoffnungsmodus?

Erkennen, dass wir nicht alles kontrollieren können

Wir brauchen zuerst die Einsicht, dass die Welt unverfügbar ist. Wir haben die Dinge nicht im Griff. Weder technisch noch politisch, weder ökonomisch noch ökologisch. Die Welt bleibt unberechenbar, unbeherrschbar und unverfügbar. Wir haben die Welt eben nicht in der Hand. Unser eigenes Leben auch nicht. Wir leben davon, dass wir alles empfangen. Je eher wir dies akzeptieren, desto eher werden wir frei zu hoffen. Hoffnungsmenschen entwickeln eine Resilienz gegenüber dem Chaos des Lebens. Eine Widerstandskraft gegen die Monster der Angst und gegen den Ruf in die engen Ecken der polarisierenden
Polterer.

Lernen, mit Zwischenlösungen zu leben

Zweite Einsicht: Wir erreichen nichts, wenn wir immer nur aufs Ganze gehen. Ein Totalanspruch auf das richtige Verständnis der Verhältnisse ist zum Scheitern verurteilt. Es gibt Zwischenlösungen. Wer zu Radikalisierung neigt, möge das bedenken. Beispiel: Klimaschutz. Der Weg zu mehr Nachhaltigkeit besteht aus vielen Zwischenschritten. Das gilt auch beim Umbau von Gemeinden und ihren Strukturen. Das Leben besteht aus Zwischenlösungen. Nur so gehen viele mit.

Hoffnungsmenschen verlassen sich. Lassen sich selbst zurück. Lassen ihr Sicherheitsbedürfnis ruhen. Und verlassen sich auf den Gott, der alles gibt.

Steffen Kern

Schon die Bibel erzählt die alte Geschichte von den Israeliten, die vierzig Jahre lang durch die Wüste ziehen. Ausgebrochen aus der Sklaverei in Ägypten. Ihr Ziel: das gelobte Land. Aber da waren sie nicht in
zwei Flugstunden. Vierzig Jahre Wüstenwanderung Mehr als eine Generation lang unterwegs. Die meisten, die aufgebrochen waren, kamen gar nicht an. Zwischenlösung statt Perfektion. Wüste statt Paradies. Das Wundersame ist: Gerade in der Wüste wurde das Volk zu einer Hoffnungsgemeinschaft, ausgerichtet auf das, was kommen sollte. Das große Ziel vor Augen. Das Versprechen Gottes im Ohr und im Herzen: Wir werden eines Tages dort ankommen. Lasst uns lernen, mit Zwischenlösungen zu leben und zugleich zielorientiert bleiben!

Unvollkommenes aushalten

Wir brauchen die Bereitschaft, Unvollkommenes auszuhalten. Krisen machen uns kritisch und skeptisch. Wir hätten es gern einfach und klar. Wenn wir die Welt schon nicht beherrschen und kontrollieren können, wollen wir sie wenigstens erklären. Sie dadurch verfügbar machen, dass wir die Dinge ordnen. Genau wissen, was richtig und falsch ist. Wer es recht sagt und wer daneben liegt. Alle Krisen bringen Besserwisser und Rechthaber hervor. Die Aktivisten, aber auch die Nörgler, die Bremser und Verweigerer. »Da mach ich nicht mit … wo kämen wir da hin … das haben wir früher auch nie gemacht!« – Es ist vieles unübersichtlicher geworden. Alte Schubladen passen nicht mehr. Wir sind auf dem Weg. Die perfekte Gemeinde oder den perfekten Verband gibt es genauso wenig wie die perfekte Partei. Unsicherheit gehört zum Leben und zum Glauben. Hoffnungsmenschen halten Spannungen aus. Und sie halten Menschen aus, die anders ticken, anders denken und ihren Glauben anders leben.

Gewiss statt sicher

Wir brauchen die Entdeckung, dass Gewissheit etwas anderes ist als Sicherheit. Es gilt, beides zu unterscheiden. Das haben schon die alten Reformatoren rund um Martin Luther getan. Sie wussten um die »securitas«, die äußere Sicherheit, die auf sichtbaren, berechenbaren, formulierbaren und kontrollierbaren Kriterien gründet. Dazu zählen etwa die guten Werke, die ein Mensch tut – oder eben nicht tut. Davon unterschieden sie die »certitudo«, die innere Gewissheit, die sich schlicht auf das Versprechen gründet, dass durch Jesus Christus alle Schuld vergeben ist und allein der Glaube gerecht macht. Sicherheiten brechen weg. Wer nach Sicherheiten sucht, wird immer scheitern. Wer sich auf vermeintliche Sicherheiten gründet, wird entweder verzweifeln oder hochmütig werden. Hoffnungsmenschen verlassen sich. Lassen sich selbst zurück. Lassen ihr Sicherheitsbedürfnis ruhen. Und verlassen sich auf den Gott, der alles gibt. Derjenige, der ihnen das Leben gegeben hat, wird es auch erhalten. Hoffnungsmenschen vertrauen auf einen Gott der Hoffnung.

Orientierungssinn statt Standortstreit

Wir brauchen Orientierungssinn statt ständiger Standortbestimmungen. Natürlich gehört beides zusammen. Wer wissen will, wohin es geht, muss auch eine Ahnung haben, wo er steht. Aber wir kennen unseren aktuellen Standort nicht. Wir haben nicht die Vogelperspektive. Wir sind unterwegs im Dschungel. Wir wissen nicht, was vor uns liegt, wie sich die Dinge entwickeln werden, ob wir alles richtig einschätzen oder nicht. Wir können daneben liegen. Andere auch. Manche strittigen Debatten kommen
mir vor, wie ständige Standortbestimmungen. Die Beteiligten suchen die ganze Zeit nach GPS-Daten, um genau sagen zu können, wer wo um wie viel Grad verkehrt liegt. Ein Streit um Standpunkte, bei dem letztlich alle stehen bleiben. Niemand kommt voran. Der Streit lähmt. Gemeinsam geht nichts.

Dynamik der Hoffnung

Nun benötigen wir klare Standpunkte, keine Frage. Pluralität braucht Positionen. Die Sache ist nur: Wir alle sind auf dem Weg. Wir orientieren uns an gemeinsamen Punkten, an Grundwerten und Grundrechten. Das sind in der Gesellschaft etwa Freiheit, Gerechtigkeit, die Würde des Menschen und seine unveräußerlichen Rechte. Das sind Orientierungspunkte im Dschungel unserer Debatten. Fixsterne, die uns leiten, auch wenn wir nicht genau wissen, wo wir und andere stehen. In Kirche und Gemeinde ist Jesus Christus selbst dieser Fixstern. Auf diesen Stern schauen wir. Auf sein Wort hören wir. Wir bestimmen nicht die Standpunkte von allem und jedem. Aber wir orientieren uns am Fixstern und weisen andere auf diese Orientierung hin. Nur so kommen wir auf einen gemeinsamen Weg. Hoffnungsmenschen halten diesen Orientierungssinn wach. Wenn wir uns an Fixsternen orientieren, wächst nach und nach wieder Gemeinsinn. Es entsteht eine neue Dynamik.

Allerdings geben Gemeinden und Kirchen oft ein anderes Bild ab. Sie sind zerstritten, grenzen sich ab und wirken hoffnungslos rückwärtsgewandt.

Unsere Kirchen und Gemeinden leiden an einer Hoffnungskrise

Wir erwarten nichts mehr. Wir erwarten nicht mehr, dass es einen Gott gibt, der handelt und dem nichts unmöglich ist. Wir rechnen nicht mit den Möglichkeiten Gottes. Wir sehen nicht über das hinaus, was jetzt ist. Wir sehen nicht die alternative Zukunft, die werden könnte. Wir erwarten keine Wende und keinen Wandel. Wir fügen uns in vermeintlich Festgelegtes und Festgeschriebenes. Das ist das Gegenteil von Hoffnung. Wir rechnen gar nicht mehr ernsthaft damit, dass sich etwas ändert. Wir trauen unseren »good news« nicht mehr zu, dass sie Wirkung entfalten. Wir sehen uns nicht als Pionierinnen und Pioniere einer neuen Welt. Wir gestalten nicht. Wir verwalten. Uns selbst. Als Kirchen, Gemeinde und Gemeinschaften. Wir verwalten unseren Rückzug in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit. Abbau von Pfarrstellen. Abwicklung von Werken. Abverkauf von Immobilien. Wir sehen nur, dass wir kleiner, älter und ärmer werden. Stimmt ja. Das ist nicht zu leugnen. Es geht nicht um Traumtänzerei. Aber es geht darum, den
Möglichkeitssinn zu wecken. Den Traum eines Martin Luther King zu träumen und zu teilen. Den Orientierungssinn zu schärfen, der uns auf den Fixstern ausrichtet. Es geht darum, die Hoffnung wiederzuentdecken. Das, was uns doch eigentlich ausmacht. Bescheiden. Schlicht. Kein Aufruf zum Aktionismus. Auch nicht zur Lethargie. Aber zu einer tiefen Gelassenheit.

Viele Hoffnungsgeschichten gibt es im Podcast „Hoffnungsmensch“. Dort spricht Steffen Kern mit interessanten Personen.
Hunderte von Hoffnungsgeschichten

Dafür steht Jesus Christus, der von den Toten auferstanden ist und die Welt in seiner Hand hält. Kann man
eigentlich mehr erhoffen und mehr erwarten? Die Kirchen sind doch die Hoffnungsgemeinschaft schlechthin! – Dafür stehen beispielhaft neuere Gründungen und Initiativen, etwa die EC-Jugendgemeinde „Eastside“ in Magdeburg, das „Projekt K“ in München, die „Homezone“ der Apis in Stuttgart, der Christustreff der Stadtmission Berlin oder das Begegnungszentrum Sankt Bernhard in Brandenburg an der Havel. Es gibt Hunderte von Hoffnungsgeschichten. Sie alle haben damit zu tun, dass sich Menschen auf das verlassen, was Jesus versprochen hat. Er sei bei uns alle Tage bis an das Ende der Welt. Getrost sollen wir sein, wenn uns die Angst überfällt, denn er habe die Welt überwunden. – Wer das hört, kann doch gar nicht anders: Der oder die muss zum Hoffnungsmensch werden. Hoffnung heißt, das zu erwarten, was uns versprochen ist. Hoffen wächst aus dem Hören. Sich neu sagen lassen, was gilt, was hält und was trägt.

Darum mein Appell: Lasst uns gottesbewusster und selbstvergessener sein!

  • Vertrauen, dass Gott Schöpfer ist und kontinuierlich am Werk bleibt. Lasst uns christusgewisser und krisengelassener werden!
  • Vertrauen, dass der gekreuzigte Jesus Christus auch in unseren Krisen da ist. Lasst uns geistesgegenwärtige leben und mutiger hoffen!
  • Vertrauen, dass Gott heute sein Reich baut. Sogar mit uns.

Steffen Kern, Präses des Gnadauer Verbandes

Steffen Kern:

Hoffnungsmensch
Mit dem Himmel im Herzen die Welt verändern

Preis. 18,- Euro
Erschienen bei SCM

Bestellbar unter www.hoffnungsmensch.de

Diesen Beitrag teilen