Texterklärung

Mal wieder vorschnell geurteilt!? Das scheint ein großes Problem in dem langen Text zu sein, der ansonsten ganz unterschiedliche Themen beinhaltet. Das Gespräch in den Versen 1-5 bezieht sich auf zwei Ereignisse in Jerusalem, wo galiläische Männer beim Opfern im Tempel getötet wurden und ein Turm in der Nähe des Teiches Siloah eingestürzt ist. In den Versen 6-9 verdeutlicht Jesus seine Aussage mit dem Feigenbaum-Gleichnis. Die Hörer hatten dabei vermutlich die zahlreichen Israel-Feigenbaum-Vergleiche aus dem Alten Testament im Hinterkopf (vgl. Hos 9,10; Mi 7,1-4; Jer 8,13; 29,17). In den Versen 10-17 entfacht ein Konflikt um die Heilung am Sabbat, da dies nach damaligem jüdischen Verständnis nur bei Lebensgefahr erlaubt war (vgl. 2Mo 20,9-10).

Etwas vorschnell und laut

Wie schnell passiert es, dass ich vorschnell über etwas oder (noch schlimmer!) jemanden urteile. Wie schnell passiert es, dass dieses vorschnelle Urteil aus einem vorlauten Mundwerk in die Welt hinausposaunt wird. Jesus ist da ganz anders. Sein Blick für die Menschen sowie seine Worte und Taten sind von Gottes Liebe und Weisheit erfüllt. Bei ihm kommen Gnadenwort und Bußruf zusammen.

Die Schuldfrage

Folgt die Strafe Gottes auf dem Fuß? Oder werden zumindest die kleinen Sünden vom lieben Gott sofort
bestraft? Diese Redensarten beruhen auf einem Schuld-Strafe-Verständnis, das in der Zeit Jesu sehr verbreitet war (so beispielsweise auch in Joh 9,2). Zugegeben: Wenn man Gottes Strafandrohungen in manchen Bibelstellen liest und sie aus dem gesamtbiblischen Kontext herauslöst, kann man zu diesem Verständnis gelangen. Zudem ist dieser Gedanke der Strafe Gottes eine mögliche Erklärung für das Leid der Welt. Wenn man allerdings den gesamtbiblischen Kontext beachtet, sollte man diese Ansicht infrage stellen. Schon die Gefahr, dass man anfängt, bei Leidtragenden nach Schuld zu suchen, sollte einen vorsichtig werden lassen. Wer andere Menschen so ansieht, droht arrogant zu werden und den Blick für die eigene Schuld zu verlieren – anders gesagt: Man sieht nicht den Balken im eigenen Auge (Mt 7,3). In diesem Sinne widerspricht Jesus jener Position vehement.

In Jesu weisen Antworten wird deutlich, dass jeder Mensch voller Sünde ist und eine harte Strafe verdient
hätte. Diejenigen, die schlimmes Leid erfahren, sind deshalb weder schlimmer noch weniger schlimm als andere. Doch was ihnen geschehen ist, kann allen Menschen als Warnung dienen. Die Frage nach dem Leid
lässt sich also nicht mit der Schuld einzelner Menschen beantworten. Vielmehr ist die Verschonung von Leid ein Zeichen von Gottes Gnade. Für Jesus ist das Gespräch deshalb Anlass, die Menschen zur Umkehr zu rufen. Wer sich an ihn hält, lernt den Ernst der eigenen Sünde kennen und erlebt zugleich, dass die Strafe dafür nicht nur aufgeschoben, sondern sogar aufgehoben ist. Diese Erkenntnis macht uns hoffentlich nicht überheblich, sondern demütig.

Das rechte Maß

Demut fordert Jesus auch von den Besserwissern in der Synagoge. Auch hier findet Jesus wieder weise Worte und nutzt ein Stilmittel, das in Gelehrtendiskussionen seiner Zeit sehr beliebt war. Er beschreibt eine nach vollziehbare Alltagssituation und schließt von dieser kleineren auf eine andere größere Sache. Hier wurde mit zweierlei Maß gemessen. Als Jesus ihnen das vor Augen führt, schämen sich die einen und freuen sich die anderen.

Liebevolle Korrektur

Neben den vielen verschiedenen Themen, die uns in dem langen Textabschnitt begegnen, ziehen sich im Hintergrund zwei Linien durch. Auf der einen Seite begegnen uns immer wieder das vorschnelle Urteil und die Arroganz von Menschen. Auf der anderen Seite macht Jesus die Perspektive Gottes in schlagfertigen, weisen Antworten und liebevollen Taten deutlich. Damit korrigiert er die Menschen um ihn herum – und mit ihnen Heilung am Sabbat, da dies nach damaligem jüdischem auch uns – und ermutigt dazu, sich an ihn zu halten.

Vorschlag zum Einstieg

Verschiedene Maße mitbringen und eine Sache mit diesen Maßen abmessen. Damit deutlich machen: Wer das falsche Maß anlegt, schätzt die Sache völlig falsch ein. Dann Hinführung zum Thema: „Was ist das rechte Maß für unser Miteinander?“

Fragen zum Gespräch
  • Wo habe ich zuletzt vorschnell geurteilt oder vorlaut gehandelt?
  • Wie sieht Jesus die Menschen in meinem Umfeld?
  • Habe ich schon einmal erlebt, wie Jesus meinen Blick und mein Herz für meine Mitmenschen geöffnet
    hat?

Jonas Nau, Pfarrer

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