„Sie hat damals zu mir gesagt … und das hat mich so verletzt!“ – „Als mir so mir nichts, dir nichts gekündigt wurde, hat mich das schwer verletzt.“ – „Ich habe durch meine Eltern in meiner Kindheit tiefe Verletzungen erfahren.“ – Solche, oder so ähnliche Bemerkungen hat jeder schon einmal gehört. Wir sagen das so leichthin und meinen mit „Verletzung“ natürlich keine blutende Wunde oder einen gebrochenen Knochen. Aber was meinen wir denn dann eigentlich? Was nennen wir da Verletzung? Wodurch wurde diese verursacht, welche Folgen hat sie und wie kann so eine Art von Verletzung heilen?

Worum es geht

Neben dem, was wir eine körperliche Verletzung nennen, gibt es noch andere Formen. Es greift aber zu kurz, wenn wir diese schlicht „psychische Verletzungen“ nennen würden. Das meiste von dem, was wir landläufig der Psyche zuordnen, findet nämlich in einem sehr körperlichen Organ statt: unserem Gehirn. Dort muss irgendetwas geschehen sein, wenn wir mit den oben zitierten Worten von Verletzungen sprechen.

Übers Gehirn reden

Erstaunlich
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass in der ganzen Bibel nirgendwo vom Gehirn die Rede ist? Das meiste von dem, was wir heute dem Gehirn zuordnen, sortiert die Bibel unter dem Begriff „Herz“ ein. Das Herz ist dabei mitnichten nur ein Ort, an dem irgendwelche Gefühle stattfinden, sondern der Ort, an dem gedacht, gelernt, verstanden, geglaubt und ja – auch gefühlt wird.

Das meiste von dem, was wir landläufig der Psyche zuordnen, findet nämlich in einem sehr körperlichen Organ statt: unserem Gehirn.

Cornelius Haefele

Verwirrung
Diese Tatsache sorgt an nicht wenigen Stellen für Verwirrung und muss daher in diesem Artikel zuerst einmal klargestellt werden. Wenn es im Alten Testament heißt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“ (5Mo 6,5), dann beschreiben diese drei Begriffe nicht etwa irgendwelche voneinander getrennten Teile des Menschen, sondern sie beschreiben den einen Menschen mit drei Aspekten, die zu ihm gehören. Dabei soll klargemacht werden, dass der Mensch eben als ganzer Mensch mit Gott in einer Beziehung sein soll und nicht nur mit einem Teil von sich. Interessant ist dabei, dass als erstes das Herz genannt wird, welches eben als der Ort des Denkens, des Verstehens, des Lernens, der Erkenntnis, der Weisheit, des Wahrnehmens und Fühlens usw. gilt.

Wenn man also z. B. irgendwo in Zusammenhang mit Lobpreis hören kann, dass Lobpreis nur dann wirklich Lobpreis wäre, wenn er nicht einfach nur aus dem Gehirn, sondern wirklich aus dem Herzen käme, macht dieses Argument nicht wirklich Sinn. Man meint mit „Herz“ dann meist irgendwelche religiösen Gefühle, die im Unterschied zum rationalen Denken auf irgendeine Weise besser sein sollen. Fakt ist: die Bibel trennt das überhaupt nicht. Denken, verstehen, fühlen – dies finde alles auf der gleichen Ebene statt. Das wurde in der Antike noch im Herzen verortet. Heute wissen wir, dass all diese Aspekte gemeinsam (!), teilweise eng aufeinander abgestimmt oder aufeinander folgend und einander bedingend, in unserem Gehirn stattfinden. Auch die bekannte Formulierung: „Das muss erst mal noch vom Herz ins Hirn.“ oder umgekehrt, ist im Grunde falsch. Wollte man es hirnorganisch oder neurologisch korrekt ausdrücken,
müsste man sagen: „Der Lernprozess ist noch nicht vom sensorischen Gedächtnis ins Kurzzeitgedächtnis und von dort ins Langzeitgedächtnis übergegangen.“ Zugegeben, das hört sich weit weniger attraktiv an.

Denken, verstehen und fühlen findet im Verständnis der Bibel auf der gleichen Ebene statt.

Wunderwerk
Wussten Sie eigentlich, was für ein erstaunliches Wunderwerk sich da zwischen ihren beiden Ohren befindet? Die Wissenschaft ist sich einig: Das menschliche Gehirn ist die bei weitem komplizierteste Struktur, die wir im Universum kennen. Viele andere Lebewesen auf diesem Planeten haben ebenfalls ein Gehirn, aber keines kommt auch nur im Ansatz an die Leistungsfähigkeit und Komplexität des menschlichen Gehirnes heran. In diesem, Ihrem, Gehirn befinden sich ungefähr 1 Billion Nervenzellen (das ist eine eins mit zwölf Nullen), weit mehr als es Sterne in unserer Galaxie gibt. Dieses wundersame Organ steuert, regelt, speichert und verwaltet alles: unsere Sinnesorgane, unsere Bewegungen, unsere Körperfunktionen, unsere Emotionen und Gefühle, unsere sozialen Reaktionen, unsere Sprache und Kommunikation, unser Gedächtnis, unser Denken, unser Bewusstsein, eben alles, was uns ausmacht.

Geheimnisvoll
Obwohl wir heute so viel über dieses Organ und seine Funktionen wissen, wissen wir nach wie vor immer noch ziemlich wenig. Es ist zum Beispiel weiterhin ziemlich schleierhaft, auf welche Art und Weise unser Gehirn überhaupt Informationen speichert. Wir wissen nur, dass es das tut. Wir wissen auch, dass viele dieser Speicherprozesse aufgrund von „Lernerfahrungen“ geschehen. Und nun sind wir endlich da, wo wir hinmüssen.

Wie Verletzungen entstehen
Ich erlebe eine Situation in der mich jemand massiv angreift und beleidigt. Mein Gehirn vergleicht diese Erfahrung mit anderen, bisher gemachten Erfahrungen und bewertet diese als „unangenehm, schrecklich, katastrophal, erniedrigend o. ä.“ Diese Bewertung hat nun Konsequenzen dafür, wie ich mich fühle und wie ich mich dann verhalte. Dieses ganze Konstrukt wird nun gespeichert. Dabei ist eine interessante Feststellung: je schrecklicher die tatsächliche auslösende Situation ist, desto nachhaltiger
ist die Speicherung. Eine weitere, fast noch interessantere Feststellung ist: Die auslösende Situation war gar nicht so furchtbar, oder zumindest nicht katastrophal. Die Bewertung der Situation ist aber katastrophal ausgefallen, und auch das führt zu einer nachhaltigeren Speicherung. Es kann also geschehen, dass die auslösende Situation, obwohl gar nicht so furchtbar, dennoch als solche bewertet wurde und darum nachhaltig gespeichert ist. Das Problem ist nun, dass bei zukünftigen Erlebnissen, mein Gehirn diese gespeicherte Erfahrung immer mit ins Kalkül zieht, ob das nun passt oder nicht. So erlebe ich, dass eine „tiefe Verletzung“ sich immer wieder dann zu Wort meldet, wenn ich ähnliche Situationen erlebe. Auf diese Art und Weise empfinde ich solche „Verletzungen“ als etwas sehr Hartnäckiges, was mich möglicherweise durch mein ganzes Leben begleitet. (Natürlich ist dieser ganze Prozess in der Realität noch viel komplexer und geheimnisvoller, dennoch hilft dieses Modell, das Grundprinzip nachzuvollziehen.)

Um so etwas wieder loszuwerden in dem Sinne, dass es mich in Zukunft nicht ständig bei ähnlichen Situationen wieder heimsucht, ist die Lösung ebenso einfach, wie schwierig. Ich muss den Lernprozess schlicht rückgängig machen. Oder anders ausgedrückt: ich muss etwas wieder „verlernen“.

Cornelius Haefele

„Verletzungen“ heilen – Vom Verlernen und Neulernen
Habe ich ein blutiges Knie, klebe ich ein Pflaster darauf. Breche ich mir einen Knochen, hilft eine Schiene oder ein Gipsverband. Wie sieht das nun bei Verletzungen anderer Art aus? Wie wir sahen, ist jede Verletzung das Ergebnis eines Lernprozesses. Ich habe etwas Mieses erlebt, mich dabei richtig schlecht gefühlt und nun gelernt: So etwas macht mich fertig. Um so etwas wieder loszuwerden in dem Sinne, dass es mich in Zukunft nicht ständig bei ähnlichen Situationen wieder heimsucht, ist die Lösung ebenso einfach, wie schwierig. Ich muss den Lernprozess schlicht rückgängig machen. Oder anders ausgedrückt: ich muss etwas wieder „verlernen“.

Vielleicht haben Sie das in Ihrem Leben schon einmal so erlebt: Sie haben für irgendeine Tätigkeit die Bedienung einer bestimmten Maschine gelernt (Nähmaschine, Hobelmaschine o. a.). Mit dieser haben Sie nun jahrelang diese Tätigkeit ausgeübt. Nun ist diese Maschine aber kaputt und Sie mussten eine neue kaufen. Diese funktioniert jedoch völlig anders und verlangt völlig andere Bedienungsabläufe. Es dauert eine ganze Zeit, um die alten, gewohnten, vielleicht über Jahrzehnte erlernten Bewegungen zu verlernen und stattdessen die neuen, erforderlichen Bewegungen neu zu lernen. Nicht sehr viel anders sieht es beim Loswerden von Verletzungen aus. Das Ganze ist sowohl ein Verlern-Prozess als auch ein Neulern-Prozess.

Das Geheimnis der Vergebung

Hätten Sie‘s gedacht? Genau das ist das, was die Bibel unter „Vergebung“ versteht. Ich weiß, viele Menschen haben hier alle möglichen Vorstellungen, was das wohl bedeuten soll. Meistens führen diese dazu, dass sie es erst gleich gar nicht probieren mit dem Vergeben, denn das klappt ja sowieso nicht. Jesus war das aber irgendwie ziemlich wichtig, so wichtig, dass er es richtig deutlich zum Ausdruck brachte (Mt 18,35).

Vergebung heißt: Ich lerne, meine finsteren bitteren, vielleicht hasserfüllten Rachegefühle gegenüber einem anderen, der mir Böses getan hat, loszulassen und lerne neue Gedanken und Gefühle einzuüben.

Cornelius Haefele

Der größte Irrtum besteht wohl darin, Vergebung wäre ein einmaliges Geschehen: Ich spreche einmal Vergebung gegenüber einem anderen aus und danach darf es mir nie wieder einfallen. So funktioniert unser Gehirn leider nicht. Darum kann Vergebung gar nichts anderes sein als ein Prozess. Ein Lernprozess, oder, wenn Sie so wollen, ein geistlicher Lernprozess. Ich lerne, meine finsteren bitteren, vielleicht hasserfüllten Rachegefühle gegenüber einem anderen, der mir Böses getan hat, loszulassen und lerne neue Gedanken und Gefühle einzuüben. Das Ziel ist, dass es mir am Ende besser geht und ich die Last
nicht länger tragen muss. Das ist harte Arbeit, so wie beim oben erwähnten Beispiel vom Verlernen und Neulernen. Ich bin mir aber sicher, dass wenn sich Menschen auf diese Reise machen, sie kräftige Unterstützung vom Heiligen Geist bekommen. Dennoch bleibt die Sache etwas, was mir Zeit, Energie und ein „Ich will das.“ abverlangt. Jemand sagte einmal: Heilung heißt nicht, dass die Verletzung nie existierte,
sondern dass die Verletzung nicht mehr Ihr Leben bestimmt. Wenn das geschieht, ist im Hirn etwas passiert und ich bin überzeugt: im Himmel gibt‘s ein Freudenfest.

Cornelius Haefele, Personalvorstand der Apis

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